Häufig lese und höre ich in den letzten Monaten: Die Pandemie hat die Digitalisierung beschleunigt. Die Beispiele, die dann in diesem Kontext angeführt werden, mögen allesamt richtig sein. Ich stelle mir die Frage: Sind diese Beispiele „nur“ aus der Not geboren, oder steht dahinter ein strategisches Konzept?

Wenn ich etwas weiter zurückblende – Dotcoms, New Economy etc. -, dann führten die Etablierung des Internets und des Mobiltelefons sowie die Entwicklung von Handheld-Computern Ende des letzten Jahrhunderts zu einer Aufbruchstimmung im Bereich digitaler Technologie. Klassische Strategiemuster haben in damals nicht gesättigten Märkten gut funktioniert. Sog. Inside-Out-Betrachtungen waren die Regel; BSC-, McKinsey- und Ansoff-Matrizen Bestandteil jeder Unternehmensstrategie. Unternehmen hatten Wachstumspotenziale („Stars“) und die „Cash Cows“ waren noch zu melken.

Dies hat sich jedoch bereits seit etlichen Jahren grundlegend zu wandeln begonnen. Immer häufiger dominieren „Question Marks“ und vage Visionen. Daneben treffen wir vielerorts auf gesättigte Märkte. Hierfür sind sog. Outside-In-Betrachtungen vorteilhaft, die Unternehmen dabei unterstützen, über das bestehende Geschäft hinaus zu denken und Kreativität zu fördern.

Erste strategische Konzepte, die für solche Betrachtungen hilfreich sind, haben ihren 20. Geburtstag bereits hinter sich; so z.B. Competitive Nightmare (Montante, 1991; Gordon, 2002) und Judo Strategy (Yoffie, Kwak, 2001). Weitere kamen später noch hinzu; so z.B. Business Model Generation (Osterwalder, 2010), Kill Your Company (Kirsh, 2012), Blue Ocean Strategy (Kim, Mauborgne, 2015) und Innovator’s Dilemma (Christensen, 2016).

Damit dieser Beitrag nicht zu umfangreich wird möchte ich mich auf drei Schwerpunkte fokussieren:

  • Grundüberlegungen zur Digital Business Transformation,
  • Die 4 Schritte eines Nightmare-Competitor-Ansatzes, und
  • Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle.

Grundüberlegungen zur Digital Business Transformation

Wie bereits angedeutet reichen evolutionäre Geschäftsmodellentwicklungen und ein daran ausgerichtetes Change Management häufig nicht mehr zur nachhaltigen Erfolgssicherung aus. Stattdessen stellen wir Geschäftsmodelle grundsätzlich in Frage, agieren disruptiv und initiieren Transformation Management Programme – Beispiel Schweiz. Transformation ist nicht nur ein anderer Begriff für Change! Transformation-Management zielt auf die Neuerfindung einer Unternehmung oder eines Geschäftsmodells ab. Es ist unvorhersehbarer, iterativ und experimentell und deshalb mit wesentlich mehr Risiken verbunden als Change-Management-Initiativen.

Die Digital-Business-Transformation-Matrix unterstützt Unternehmen, die sich mit Change- und Transformation-Management systematisch auseinandersetzen. Bergamin/Braun/Glaus untersuchten entlang dieser Matrix neun Schweizer Unternehmen unterschiedlicher Branchen: aktuelle Positionierung (blau), Entwicklungspfade (grün) und mögliche Nightmare Competitors (rot, hierzu gleich mehr):

Die Autoren fassten ihre Erkenntnisse in acht Kernpunkten anhand nachfolgender Leitfragen zusammen und „unterlegten“ diese mit einer Toolbox:

  1. Haben wir eine Digital Transformation Awareness? (Transparenz, SWOT, Digital Radar, Hyperawareness)
  2. Folgen wir dem Kundenverhalten vom realen in den digitalen Raum? (Kunden, digitale Kanäle)
  3. Nutzen wir das gesamte Spektrum von digitalen Technologien? (Digitalisierung der Prozesse, BI, AI/ML)
  4. Haben wir eine digitale Vision und Strategie? (Leitfragen, Roadmap, Disruption/Nightmare Competitors, make or join)
  5. Wie gestalten wir unser Digital Business Model? (Sharing- resp. Plattformgeschäftsmodelle, Kooperationen von Offline-und Online-Geschäften)
  6. Passt unser Leadership Model für unser Digital Business Model? (traditionelle/agile Organisationsformen, Kernprozesse, Innovation)
  7. Wie erreichen wir eine digitale Kultur? (Leistungsfähigkeit/-bereitschaft, Mindset Shift, Kultur der Offenheit, Risikobereitschaft und Serendipity, Digital Readiness)
  8. Wie managen wir die Digital Business Transformation? (Innovator oder Umsetzer, Change Management und/oder Transformation Management, Erfolgsfaktoren)

Nightmare Competitors – in der obigen Grafik rot markiert – haben ihre digitalen Geschäftsmodelle konsequent aus der Kundenperspektive entwickelt und umgesetzt. Sie fordern auf diese Weise angestammte Marktführer heraus. Dabei haben die Nightmare Competitors häufig den Vorteil, dass sie punktgenau ein hochmargiges Produktsegment angreifen können, ohne Rücksicht auf Bestandskunden und auf Legacy-Systeme nehmen zu müssen.

Die 4 Schritte eines Nightmare-Competitor-Ansatzes

Grundsätzlich analysiert ein Nightmare Competitor zunächst die von den etablierten Anbietern angesprochenen Kunden und wendet sich mit spezifischen Lösungen an diejenigen Kundengruppen, die von den bestehenden Anbietern nicht perfekt bedient werden. Im Unterschied zur Business Model Canvas und zur Blue Ocean Strategy ist der Kunde „außerhalb der Gleichung“, also nicht fester Bestandteil des Business Model. Das Business Model muss beim Nightmare-Competitor-Ansatz dem Kunden dienen (Customer-Centric Business Model)! Diesem Ansatz folgend unterscheiden Grothe & Lock auf Basis ihrer Erfahrungen fünf Typen, sog. Archetypes, von Nightmare Competitors und wenden die Vorgehensschritte des Ansatzes mit Hilfe eines Business Model Radars bei mehreren Unternehmen unterschiedlicher Branchen exemplarisch an:

  1. Beschreibe die Kundenbasis der Etablierten.
  2. Beschreibe das Geschäftsmodell der Etablierten.
  3. Identifiziere nicht perfekt bediente Kunden.
  4. Entwerfe ein Modell speziell für diese(n) Kunden.

Es gibt viele Wege, zu einem anderen Geschäftsmodell zu kommen. Mit Hilfe der Business Model Constituents – Teil von Schritt 2 -, wie z.B. Leistungsangebot, Zulieferer und Ertragsmodell, bzw. der Canvas-Bausteine kann man prüfen, ob die wichtigsten Bestandteile eines Geschäftsmodells berücksichtigt wurden.

Der Nightmare-Competitor-Ansatz ist am Ende des Tages nichts anderes als ein bewusst projizierter „Sense of urgency“! Mitunter ist dieser „Kick“ notwendig, um große Schritte zu machen, d.h., das Geschäftsmodell grundsätzlich zu hinterfragen. Dies tun derzeit auch zahlreiche Versicherer mit Blick auf InsurTechs.

Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle

Ist dies gelungen, ist also das etabliere und das Nightmare-Competitor-Modell im Business Model Radar transparent abgebildet – unter Einbindung von Problem/Lösungs-Fit und Produkt/Markt-Fit -, geht es an die Umsetzung. Diese folgt – wie in einem separaten Beitrag dargelegt – der 4DX-Methodik mit sechs Umsetzungsschritten:

  • Das Design der Implementierung beinhaltet Governance und Funding; d.h. der Fokus entlang konkreter Kundenbedürfnisse und die wesentlichen Ziele der Digital Business Transformation sind definiert und geeignet, die digitale Strategie umzusetzen.
  • Bei der Einbindung der obersten Führungsebenen wird die Strategie in Handlungsfelder übersetzt und nach Wert (inkl. Zahlungsbereitschaft) und Zeit priorisiert. Die geeigneten Ressourcen sind bereitgestellt, die Finanzierung ist gesichert, es existiert Klarheit – auch hinsichtlich Produktion und Partnern (Wertlieferung).
  • Die Einbindung aller Führungskräfte stellt die Incubation-Phase dar. Hier werden die Projekte für die Tauglichkeit eines klassischen Ansatzes (klar spezifizierbare Ergebnisse) oder agiler Prinzipien (iterative Skalierung) eingeordnet. Der Bedarf nach digitalen Methoden (Design Thinking, Scrum, etc.), Know-how, Technologien und Infrastruktur (Innovation Labs, Inkubatoren, Partner, etc.) ist eruiert. Eine Roadmap für die Innovationsprojekte ist erstellt. Die Rollen und Verantwortlichkeiten im Projekt sind festgelegt, und die Schnittstellen von der Projektorganisation zur Linienorganisation sind geklärt.
  • Die vorgenannten Inhalte werden in einem sog. Team-Launch mit allen Beteiligten final abgestimmt und vereinbart. Hierzu gehört auch, wie der Erfolg des Geschäftsmodells tatsächlich aussieht und wie dieser gemessen werden kann (Skalierung & KPIs).
  • Die 4DX-Umsetzung steht für die Acceleration-Phase mit Blick auf digitale Programme und Projekte. Der Fortschritt und die Wirkung werden mittels Scoreboards nachgehalten und gesteuert, das Projektportfolio laufend adjustiert.
  • Im Rahmen von Führungskonferenzen wird über den Rollout der Ergebnisse der digitalen Projekte und Programme in der gesamten Organisation entschieden (Scale-up-Phase). Dabei werden das Know-how und der Ergebnistransfer in die Linie sichergestellt und die Ergebnisse in der Kultur verankert.

Der Ansatz des BMI Lab, den ich Anfang Juni vorgestellt habe,  fügt sich gut – grün dargestellt – ein. Mit jedem Schritt wird die Unsicherheit reduziert, das Unternehmen lernt dazu, passt das Geschäftsmodell an und entscheidet letztendlich bei jedem Schritt, ob es sich lohnt, die Idee weiterzuverfolgen oder nicht.

Die oben bereits zitierten Autoren Bergamin/Braun/Glaus fassen vier Schwerpunkte (blau dargestellt) der Umsetzung in folgender Grafik zusammen:

Fazit

Folgende Lessons Learned halte ich im Zuge einer Digital Business Transformation aus strategischer Perspektive für wichtig:

  • Strategische Methoden und Verfahren haben sich fortlaufend weiterentwickelt. Um die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen sollten Sie auch solche für Outside-In-Betrachtungen – immer abhängig vom jeweiligen Unternehmenskontext – zwingend einbinden.
  • Die kulturellen und organisatorisch-technischen Voraussetzungen sind mit entscheidend: Kenntnis digitaler Technologien und Kundentrends, Aufbau agiler Organisationen und Entwicklung disruptiver Geschäftsmodelle.
  • Digitale Geschäftsmodelle müssen konsequent vom Kunden – deren Probleme und Bedürfnisse – aus gedacht werden. Erstellen Sie Personas.
  • Bedenken Sie: Online- und Offline-Präsenz ist oft nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.
  • Digitalisierung hat das Potenzial, traditionelle Industriesektoren infrage zu stellen.
  • Evaluieren Sie „Make-or-join“-Strategien, denn Investitionen in die digitale Transformation eines analogen Geschäftsmodells sind enorm.
  • Kleine Nischenanbieter mit globaler Reichweite können dank ihrer Kernkompetenzen auch auf dem internationalen Parkett erfolgreich sein. Hier bieten insbesondere digitale Plattformlösungen neues Potenzial.
  • Die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle geschieht unter großer Unsicherheit, verlassen Sie sich auf Daten und Fakten statt auf Meinungen, um sie zu reduzieren.
  • Treffen Sie schnelle Entscheidungen, agieren Sie mutig, warten Sie nicht auf die 100-Prozent-Lösung, canceln Sie unnötige Meetings und geben Sie belastbaren Talenten eine Chance.
  • Vergessen Sie „one size fits all“; stattdessen gilt „the winner takes it all“.

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