Die Berufsbildung ist vielerorts ein wichtiges Instrument zur Qualifikation und Entwicklung von Nachwuchskräften, zukünftigen Fachkräften. Diese werden händeringend benötigt. Aktuelle Pressemeldungen überschlagen sich mit der Anzahl der in wenigen Jahren fehlenden ICT-Fachkräfte, Handwerker*innen und Pfleger*innen. Wohin gehen die Entwicklungen?

Vielerorts scheint der „Berufsbildungs-Motor“ ins Stocken zu geraten:

  • Etliche Ausbilder tun sich mit der Generation schwer, die sich aktuell bewirbt,
  • das Image der Berufsbildung allgemein sowie einiger Lehrberufe im Speziellen verschlechtern sich, und
  • der Anteil grundsätzlich geeigneter Bewerber*innen sinkt vielerorts deutlich.

Als sich am 10. Juli 2019 bei der Bouygues E&S InTec Management AG in Zürich ausgewiesene Praktiker und Experten zum Thema Berufsbildung trafen wurden u.a. die drei folgenden Schwerpunkte diskutiert:

Strategisches HR und Berufsbildung müssen logisch miteinander verknüpft werden

Vor ziemlich genau fünf Jahren – die Rahmenbedingungen waren noch deutlich besser als heute, aber die Anzeichen für notwendige Veränderungen waren aufgrund von Berufsbildungsdaten und –studien bereits deutlich sichtbar – wurde erstmalig die Forderung nach einem neuen Geschäftsmodell für die Berufsbildung laut. Klar war, dass es keine evolutionäre Weiterentwicklung des Bestehenden sein würde, sondern dass wir Berufsausbildung komplett neu denken müssen.

Im Jahr darauf publizierten wir im Rahmen der Schülerstudie 2015 die sieben Bestandteile der DNA klug agierender Lehrbetriebe. Einer der Bestandteile lautet: Klug agierende Lehrbetriebe haben Mut, neue Wege zu gehen. Sie nutzen dabei strategische Analysen sowie Verfahren zur Geschäftsmodellierung, passen sich mit hoher Agilität ständig ändernden Rahmenbedingungen an und agieren wirtschaftlich.
Diese Eigenschaften sind auch im Titel des Buches „Die neue Berufsausbildung – strategisch, agil, wirtschaftlich“ enthalten, das im selben Jahr herausgegeben wurde.

Der Blick auf und die Analyse von zahlreichen Ausbildungsbetrieben haben uns im Dezember 2015 zur Publikation der 10 kritischen Erfolgsfaktoren in der Berufsausbildung veranlasst. Bemerkenswert ist, dass auf den vorderen Plätzen die Faktoren Strategie, Kultur, Zielgruppe und Planung stehen!

Um den Betrieben die Umsetzung zu erleichtern haben wir – ebenfalls vor fünf Jahren – das Business Model Canvas, eine strategische Management- und Lean-Startup-Vorlage für die Entwicklung neuer oder die Dokumentation bestehender Geschäftsmodelle, für die Talentgewinnung adaptiert und daraus das Talent Sourcing Canvas entwickelt. Seitdem dient dieses Canvas als Arbeitsgrundlage für alle Tagungen und Projekte zu diesem Themenkomplex.

Dieses strategische Vorgehen haben wir kontinuierlich weiterentwickelt:

  • 2017 mit einem speziell für Berufsbildner resp. Ausbildungsverantwortliche entwickelten Gesprächsleitfaden,
  • 2018 mit einer Fokussierung auf die zwei Felder Zielgruppensegmente und Nutzenversprechen in Form des Value Proposition Canvas.

Das Instrument, zur Verzahnung von strategischem HR einerseits und der Berufsbildung andererseits ist die Strategische Personalplanung; insbesondere das strategische Kompetenzmanagement. Damit fokussieren sich die Ausbildungsbetriebe auf die Kompetenzen und Qualifikationen, die für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Unternehmens notwendig sind und häufig am Markt nur noch sehr schwer zu akquirieren sind.

Den Praktikern und Experten ist bewusst, dass hierfür noch viele Schritte zu gehen sind. Der Beitrag vom 11. Juni 2019: Was haben Berufsbildner mit Kerzen gemein? ist deshalb auch als Weckruf zu verstehen, um mit der vorab skizzierten Neuausrichtung der Berufsbildung – falls noch nicht geschehen – endlich zu beginnen.

Die Anerkennungs-Intensität muss verbessert werden

Die Lehrbetriebe haben es mit Blick auf Lernende im Wesentlichen mit drei Zeitabschnitten zu tun:

  1. Von der Erstansprache bis zum Eintritt,
  2. vom Onboarding bis zum Abschluss der Ausbildung, und
  3. die Zeit als Mitarbeitender im Betrieb.

Für die Ausbildung sind zunächst einmal die ersten beiden Zeitabschnitte relevant.

Die Zeitspanne von der Erstansprache bis zum Eintritt bezeichnet man auch als die Candidate Experience Journey:

  • Hierbei wird der Blick noch stärker auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Bewerber*innen gerichtet. Das sind in erster Linie die sog. MINT-Berufe aber auch in zunehmendem Masse gewerbliche Berufe. Immer, wenn bestimmte Bewerberzielgruppen nur schwer zu erreichen sind, ergibt sich daraus eine besondere Herausforderung für das Marketing und Recruiting. Alle Kontaktpunkte des Bewerbers mit dem Betrieb (Candidate Touchpoints) gilt es deshalb aktiv zu gestalten; dies mit dem Ziel, einen positiven Gesamteindruck zu hinterlassen.
  • Die Candidate Experience Journey ist also die Bezeichnung für die Summe an direkten und indirekten Touchpoints, über die ein Bewerber während des kompletten Prozesses mit einem Unternehmen in Berührung kommt.
  • Die STRIMacademy führt deshalb seit zwei Jahren sog. Touchpointbefragungen durch, um diese Candidate Experience Journey transparenter zu machen und daran ausgerichtet zu optimieren.
  • Die Bereitstellung einer starken Candidate Experience ist wichtiger denn je, denn Bewerber bewerten ihre Erfahrungen, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden, schlecht in sozialen Medien.
  • Häufige Handlungsfelder sind:
    • Zielgruppenorientierte Ansprache: Stellen Sie folgende Fragen: Wonach sucht mein Bewerber, als was sieht sich mein Bewerber und was möchte mein Bewerber? Welchem Berufsorientierungscluster ist mein Bewerber zuzuordnen? Welche Lebenswelt ist für ihn relevant?
    • Übersichtliche und gut strukturierte Stellenanzeige: Aufgabenprofil und Anforderungen sollten übersichtlich in Stichpunkte gefasst werden, um das Querlesen zu erleichtern. Bereits beim dritten Aufzählungspunkt nimmt die Aufmerksamkeit ab! Überfrachten Sie die Anzeige nicht.
    • Das richtige Employer Branding: Bleiben Sie authentisch, transparent und versuchen Sie, den emotionalen und rationalen Nutzen des Jobangebots darzustellen. Erst eine authentische Arbeitgebermarke und Positionierung machen es Ihnen möglich, den Cultural Fit zu testen und den passenden Bewerber zu gewinnen. Es gilt, mit der Unternehmenskultur zu überzeugen und zu verdeutlichen, was Sie von den übrigen Arbeitgebern abhebt. Einblicke ins Unternehmen in Form von authentischen Bildern oder Videos sind dafür hilfreich.

Die Zeitspanne vom Onboarding bis zum Abschluss der Ausbildung bezeichnet man als die Employee/Apprentices Experience:

  • Innerhalb jeder Organisation gibt es ein Engagement-Ökosystem – eine Reihe von miteinander verbundenen, menschlichen, organisatorischen, technologischen, finanziellen, zwischenmenschlichen und Umweltfaktoren, die zusammen die Employee Experience bei der Arbeit prägen. Wenn dieses Ökosystem gesund ist, sind die Mitarbeiter engagiert.
  • Employee Experience Management ist wie Internes Marketing ein interner Ansatz, bei dem Lernende und Mitarbeiter vor externen Kunden im Mittelpunkt stehen.
  • Bei Lernenden ist diese Employee Experience häufig negativ ausgeprägt. Nach der Schweinwelt in Zeitabschnitt 1 treffen sie nun auf die harte Realität.

Jugendliche in der Schweiz – so die Diskussion während der Business Breakfasts am 10. Juli 2019 in Zürich – müssen sich sehr früh entscheiden, welchen Weg sie in Zukunft einschlagen wollen. Durch Lehrer und Eltern (vgl. Bezugsgruppen weiter unten) fühlen sie sich häufig in hohem Masse fremdbestimmt; vor allem bei ihren Freunden erfahren sie hohe emotionale Sicherheit. Wenn sie dann in Praktika erste berufliche Erfahrungen in Betrieben sammeln wollen und ihr gewohntes Umfeld verlassen, dann zeigen sich die Betriebe von der besten Seite. Die Schattenseiten des jeweiligen Lehrberufes und/oder des Lehrbetriebes erfahren sie in aller Regel nicht; sie bewegen sich in einer Scheinwelt. Diese endet in vielen Fällen abrupt beim Eintritt in die Berufliche Grundbildung.

Etliche der in Zürich anwesenden Praktiker und Experten in der Berufsbildung sind der Überzeugung, dass die Anerkennungs-Intensität der Lehrbetriebe gegenüber den Lernenden nach der Lehrvertragsunterzeichnung stetig abnimmt. Dadurch vergeben die Betriebe zahlreiche Chancen bzw. Reputations-Möglichkeiten.

Bezugsgruppen – v.a. Eltern und Lehrer – sollten frühzeitig mit eingebunden werden

Nach wie vor spielen diese Bezugsgruppen v.a. im Rahmen der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung für Jugendliche eine entscheidende Rolle.

Insbesondere in der Assoziations-Phase (vgl. Präferenz-Modell) – Zeitabschnitt 1 – sind Gespräche mit Eltern, Bekannten und Freunden sehr wichtig. Auch in der Phase von Vertragsunterzeichnung bis Ausbildungsbeginn, in der die Bindung eine grosse Rolle spielt, ist der Kontakt zum Elternhaus, sowie die Durchführung von Elternabenden – beispielsweise mit feierlicher Vertragsunterzeichnung, etc. – mehr und mehr üblich. Etliche Ausbildungsbetriebe sind gerade dabei, die Bezugsgruppe der Eltern für sich zu entdecken und diese von den Vorzügen einer Berufsausbildung mit anschliessenden Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu überzeugen (anstatt nur einen Gymnasial-Abschluss mit anschliessendem Studium in Betracht zu ziehen).

Im Thema Lehrer-Praktika machen die Betriebe unterschiedlich gute Erfahrungen. Diese reichen von „kein Interesse“ bis hin zu „die Lehrer begleiten unsere Mitarbeiter 1-2 Wochen pro Jahr“. Manche Betriebe organisieren solche Aktivitäten bzw. Praktika in einer Stiftung. Solche Praktika befähigen Lehrer, die gemachten Erfahrungen an Schüler*innen weiter zu geben und sie in rechter Weise im Rahmen der Berufsorientierung zu unterstützen. Aktuell werden auch Fortbildungsoffensiven bei den Lehrern gefordert, damit sie die Schüler*innen in Digitalkompetenz unterrichten können.

Beide Bezugsgruppen sind also wichtig. Berichte wie „Trend zum Studium schadet“ und „Duale Ausbildung als Quelle für den Fachkräftenachwuchs“ sollten uns darin bestärken, die Berufsorientierung an Gymnasien zu intensivieren, Eltern zu sensibilisieren und Schüler*innen der Mittel- und Oberstufe häufiger auch in länger laufende, unterrichtsbegleitende Praktika einzubinden.

Es ist in diesem Kontext fatal, dass unsere Politik aus ideologischen Gründen die Schulen unter Erfolgsdruck setzt. Die Folge ist Noten-Lifting seitens der Lehrerschaft, sowie eine Fokussierung auf eher allgemeine Kompetenzen statt der herkömmlichen Fachkenntnisse. Im späteren, realen Arbeitsleben kommen die „Dünnbrettbohrer“ meist nicht weit. (Helikopter-)Eltern tun ihr übriges, um ihre Kinder „durch´s Abitur zu schleifen“ und sich, wenn es denn sein muss, auch mit Lehrern anzulegen [mehr].