Die Berufsbildung ist vielerorts ein wichtiges Instrument zur Qualifikation und Entwicklung von Nachwuchskräften, zukünftigen Fachkräften. Diese werden händeringend benötigt. Aktuelle Pressemeldungen überschlagen sich mit der Anzahl der in wenigen Jahren fehlenden ICT-Fachkräfte, Handwerker*innen und Pfleger*innen. Wohin gehen die Entwicklungen?
Vielerorts scheint der „Berufsbildungs-Motor“ ins Stocken zu geraten:
- Etliche Ausbilder tun sich mit der Generation schwer, die sich aktuell bewirbt,
- das Image der Berufsbildung allgemein sowie einiger Lehrberufe im Speziellen verschlechtern sich, und
- der Anteil grundsätzlich geeigneter Bewerber*innen sinkt vielerorts deutlich.
Als sich am 10. Juli 2019 bei der Bouygues E&S InTec Management AG in Zürich ausgewiesene Praktiker und Experten zum Thema Berufsbildung trafen wurden u.a. die drei folgenden Schwerpunkte diskutiert:
Strategisches HR und Berufsbildung müssen logisch miteinander verknüpft werden
Vor ziemlich genau fünf Jahren – die Rahmenbedingungen waren noch deutlich besser als heute, aber die Anzeichen für notwendige Veränderungen waren aufgrund von Berufsbildungsdaten und –studien bereits deutlich sichtbar – wurde erstmalig die Forderung nach einem neuen Geschäftsmodell für die Berufsbildung laut. Klar war, dass es keine evolutionäre Weiterentwicklung des Bestehenden sein würde, sondern dass wir Berufsausbildung komplett neu denken müssen.
Im Jahr darauf publizierten wir im Rahmen der Schülerstudie 2015 die sieben Bestandteile der DNA klug agierender Lehrbetriebe. Einer der Bestandteile lautet: Klug agierende Lehrbetriebe haben Mut, neue Wege zu gehen. Sie nutzen dabei strategische Analysen sowie Verfahren zur Geschäftsmodellierung, passen sich mit hoher Agilität ständig ändernden Rahmenbedingungen an und agieren wirtschaftlich.
Diese Eigenschaften sind auch im Titel des Buches „Die neue Berufsausbildung – strategisch, agil, wirtschaftlich“ enthalten, das im selben Jahr herausgegeben wurde.
Der Blick auf und die Analyse von zahlreichen Ausbildungsbetrieben haben uns im Dezember 2015 zur Publikation der 10 kritischen Erfolgsfaktoren in der Berufsausbildung veranlasst. Bemerkenswert ist, dass auf den vorderen Plätzen die Faktoren Strategie, Kultur, Zielgruppe und Planung stehen!
Um den Betrieben die Umsetzung zu erleichtern haben wir – ebenfalls vor fünf Jahren – das Business Model Canvas, eine strategische Management- und Lean-Startup-Vorlage für die Entwicklung neuer oder die Dokumentation bestehender Geschäftsmodelle, für die Talentgewinnung adaptiert und daraus das Talent Sourcing Canvas entwickelt. Seitdem dient dieses Canvas als Arbeitsgrundlage für alle Tagungen und Projekte zu diesem Themenkomplex.
Dieses strategische Vorgehen haben wir kontinuierlich weiterentwickelt:
- 2017 mit einem speziell für Berufsbildner resp. Ausbildungsverantwortliche entwickelten Gesprächsleitfaden,
- 2018 mit einer Fokussierung auf die zwei Felder Zielgruppensegmente und Nutzenversprechen in Form des Value Proposition Canvas.
Das Instrument, zur Verzahnung von strategischem HR einerseits und der Berufsbildung andererseits ist die Strategische Personalplanung; insbesondere das strategische Kompetenzmanagement. Damit fokussieren sich die Ausbildungsbetriebe auf die Kompetenzen und Qualifikationen, die für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Unternehmens notwendig sind und häufig am Markt nur noch sehr schwer zu akquirieren sind.
Den Praktikern und Experten ist bewusst, dass hierfür noch viele Schritte zu gehen sind. Der Beitrag vom 11. Juni 2019: Was haben Berufsbildner mit Kerzen gemein? ist deshalb auch als Weckruf zu verstehen, um mit der vorab skizzierten Neuausrichtung der Berufsbildung – falls noch nicht geschehen – endlich zu beginnen.
Die Anerkennungs-Intensität muss verbessert werden
Die Lehrbetriebe haben es mit Blick auf Lernende im Wesentlichen mit drei Zeitabschnitten zu tun:
- Von der Erstansprache bis zum Eintritt,
- vom Onboarding bis zum Abschluss der Ausbildung, und
- die Zeit als Mitarbeitender im Betrieb.
Für die Ausbildung sind zunächst einmal die ersten beiden Zeitabschnitte relevant.
Die Zeitspanne von der Erstansprache bis zum Eintritt bezeichnet man auch als die Candidate Experience Journey:
- Hierbei wird der Blick noch stärker auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Bewerber*innen gerichtet. Das sind in erster Linie die sog. MINT-Berufe aber auch in zunehmendem Masse gewerbliche Berufe. Immer, wenn bestimmte Bewerberzielgruppen nur schwer zu erreichen sind, ergibt sich daraus eine besondere Herausforderung für das Marketing und Recruiting. Alle Kontaktpunkte des Bewerbers mit dem Betrieb (Candidate Touchpoints) gilt es deshalb aktiv zu gestalten; dies mit dem Ziel, einen positiven Gesamteindruck zu hinterlassen.
- Die Candidate Experience Journey ist also die Bezeichnung für die Summe an direkten und indirekten Touchpoints, über die ein Bewerber während des kompletten Prozesses mit einem Unternehmen in Berührung kommt.
- Die STRIMacademy führt deshalb seit zwei Jahren sog. Touchpointbefragungen durch, um diese Candidate Experience Journey transparenter zu machen und daran ausgerichtet zu optimieren.
- Die Bereitstellung einer starken Candidate Experience ist wichtiger denn je, denn Bewerber bewerten ihre Erfahrungen, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden, schlecht in sozialen Medien.
- Häufige Handlungsfelder sind:
- Zielgruppenorientierte Ansprache: Stellen Sie folgende Fragen: Wonach sucht mein Bewerber, als was sieht sich mein Bewerber und was möchte mein Bewerber? Welchem Berufsorientierungscluster ist mein Bewerber zuzuordnen? Welche Lebenswelt ist für ihn relevant?
- Übersichtliche und gut strukturierte Stellenanzeige: Aufgabenprofil und Anforderungen sollten übersichtlich in Stichpunkte gefasst werden, um das Querlesen zu erleichtern. Bereits beim dritten Aufzählungspunkt nimmt die Aufmerksamkeit ab! Überfrachten Sie die Anzeige nicht.
- Das richtige Employer Branding: Bleiben Sie authentisch, transparent und versuchen Sie, den emotionalen und rationalen Nutzen des Jobangebots darzustellen. Erst eine authentische Arbeitgebermarke und Positionierung machen es Ihnen möglich, den Cultural Fit zu testen und den passenden Bewerber zu gewinnen. Es gilt, mit der Unternehmenskultur zu überzeugen und zu verdeutlichen, was Sie von den übrigen Arbeitgebern abhebt. Einblicke ins Unternehmen in Form von authentischen Bildern oder Videos sind dafür hilfreich.
Die Zeitspanne vom Onboarding bis zum Abschluss der Ausbildung bezeichnet man als die Employee/Apprentices Experience:
- Innerhalb jeder Organisation gibt es ein Engagement-Ökosystem – eine Reihe von miteinander verbundenen, menschlichen, organisatorischen, technologischen, finanziellen, zwischenmenschlichen und Umweltfaktoren, die zusammen die Employee Experience bei der Arbeit prägen. Wenn dieses Ökosystem gesund ist, sind die Mitarbeiter engagiert.
- Employee Experience Management ist wie Internes Marketing ein interner Ansatz, bei dem Lernende und Mitarbeiter vor externen Kunden im Mittelpunkt stehen.
- Bei Lernenden ist diese Employee Experience häufig negativ ausgeprägt. Nach der Schweinwelt in Zeitabschnitt 1 treffen sie nun auf die harte Realität.
Jugendliche in der Schweiz – so die Diskussion während der Business Breakfasts am 10. Juli 2019 in Zürich – müssen sich sehr früh entscheiden, welchen Weg sie in Zukunft einschlagen wollen. Durch Lehrer und Eltern (vgl. Bezugsgruppen weiter unten) fühlen sie sich häufig in hohem Masse fremdbestimmt; vor allem bei ihren Freunden erfahren sie hohe emotionale Sicherheit. Wenn sie dann in Praktika erste berufliche Erfahrungen in Betrieben sammeln wollen und ihr gewohntes Umfeld verlassen, dann zeigen sich die Betriebe von der besten Seite. Die Schattenseiten des jeweiligen Lehrberufes und/oder des Lehrbetriebes erfahren sie in aller Regel nicht; sie bewegen sich in einer Scheinwelt. Diese endet in vielen Fällen abrupt beim Eintritt in die Berufliche Grundbildung.
Etliche der in Zürich anwesenden Praktiker und Experten in der Berufsbildung sind der Überzeugung, dass die Anerkennungs-Intensität der Lehrbetriebe gegenüber den Lernenden nach der Lehrvertragsunterzeichnung stetig abnimmt. Dadurch vergeben die Betriebe zahlreiche Chancen bzw. Reputations-Möglichkeiten.
Bezugsgruppen – v.a. Eltern und Lehrer – sollten frühzeitig mit eingebunden werden
Nach wie vor spielen diese Bezugsgruppen v.a. im Rahmen der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung für Jugendliche eine entscheidende Rolle.
Insbesondere in der Assoziations-Phase (vgl. Präferenz-Modell) – Zeitabschnitt 1 – sind Gespräche mit Eltern, Bekannten und Freunden sehr wichtig. Auch in der Phase von Vertragsunterzeichnung bis Ausbildungsbeginn, in der die Bindung eine grosse Rolle spielt, ist der Kontakt zum Elternhaus, sowie die Durchführung von Elternabenden – beispielsweise mit feierlicher Vertragsunterzeichnung, etc. – mehr und mehr üblich. Etliche Ausbildungsbetriebe sind gerade dabei, die Bezugsgruppe der Eltern für sich zu entdecken und diese von den Vorzügen einer Berufsausbildung mit anschliessenden Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu überzeugen (anstatt nur einen Gymnasial-Abschluss mit anschliessendem Studium in Betracht zu ziehen).
Im Thema Lehrer-Praktika machen die Betriebe unterschiedlich gute Erfahrungen. Diese reichen von „kein Interesse“ bis hin zu „die Lehrer begleiten unsere Mitarbeiter 1-2 Wochen pro Jahr“. Manche Betriebe organisieren solche Aktivitäten bzw. Praktika in einer Stiftung. Solche Praktika befähigen Lehrer, die gemachten Erfahrungen an Schüler*innen weiter zu geben und sie in rechter Weise im Rahmen der Berufsorientierung zu unterstützen. Aktuell werden auch Fortbildungsoffensiven bei den Lehrern gefordert, damit sie die Schüler*innen in Digitalkompetenz unterrichten können.
Beide Bezugsgruppen sind also wichtig. Berichte wie „Trend zum Studium schadet“ und „Duale Ausbildung als Quelle für den Fachkräftenachwuchs“ sollten uns darin bestärken, die Berufsorientierung an Gymnasien zu intensivieren, Eltern zu sensibilisieren und Schüler*innen der Mittel- und Oberstufe häufiger auch in länger laufende, unterrichtsbegleitende Praktika einzubinden.
Es ist in diesem Kontext fatal, dass unsere Politik aus ideologischen Gründen die Schulen unter Erfolgsdruck setzt. Die Folge ist Noten-Lifting seitens der Lehrerschaft, sowie eine Fokussierung auf eher allgemeine Kompetenzen statt der herkömmlichen Fachkenntnisse. Im späteren, realen Arbeitsleben kommen die „Dünnbrettbohrer“ meist nicht weit. (Helikopter-)Eltern tun ihr übriges, um ihre Kinder „durch´s Abitur zu schleifen“ und sich, wenn es denn sein muss, auch mit Lehrern anzulegen [mehr].
Eine eindrucksvolle Bestätigung der Anerkennungs-Intensität liefert der diesjährige DGB-Azubi-Report. Demzufolge muss nahezu jeder achte Azubi immer wieder Arbeiten übernehmen, die nicht zu seiner Ausbildung gehören. Daneben muss mehr als ein Drittel regelmäßig Überstunden machen. Darunter sind auch viele Jugendliche unter 18 Jahren, obwohl diese nicht mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten dürfen.
Wie es gelingen kann zeigt das Beispiel der Helvetia Versicherungen.
Auch Aldi Süd lässt einige Filialen von Azubis betreiben und führen. Wer kennt weitere Positivbeispiele?
Werte Kollegen,
warum mit dem Modell „Berufsbildung“ gespielt wird, kann ich nicht für alle Lehrbetriebe beantworten. Die Erfahrung und die Beispiele, die mir zugetragen werden und dich ich direkt sehe, lassen aber schon aufhorchen. Die Frage ist berechtigt: Warum spielen die Lehrbetriebe mit einem Bereich, der in Zukunft nicht nur ihr wirtschaftliches Überleben garantieren, sondern auch gute Fachkräfte hervorbringen sollte? Dies beinhaltet m.E. viele Aspekte:
Dadurch, dass Berufsbildner und Praxisbildner (meist ohne Erfahrung in der Lernenden-Ausbildung) mit den Lernenden häufig „alleine“ gelassen werden, wird die sinkende Kurve der „Anerkennungs-Intensität“ unerbittlich eingeleitet. Die Ausbildner „on the job“ haben wenig Zeit. Sei es durch fehlendes Selbst-Management, oder durch den Termindruck auf den Projekten. Fast immer nur wird letzteres als Argumentarium ins Feld geführt. Ich sage: Es ist ersteres und somit ein eigentliches Führungsproblem. Viele Vorgesetzte zeichnen sich durch Defizite in der Mitarbeiter- und Projektführung aus. Das führt im Operativen nicht nur zu Geldverlusten, sondern zeigt auch Auswirkungen bis auf den Lernenden. Der Lernende ist in der Hierarchie-Stufe „ganz unten“. Vielfach wird dieser Fakt einfach „nicht beachtet“. Wir haben hier nun ein Führungsproblem, welches also ein massives Ausbildungsproblem generiert. Hinzu kommt, dass viele Vorgesetzte wiederum in der Gunst ihrer eigenen Vorgesetzten stehen, denn letztere sind froh, wenn die Projekte auf irgendeine Art und Weise – und möglichst reibungslos (was schon für sich eine unrealistische Wunschvorstellung ist) ablaufen. Auf diese Art und Weise, wird die Berufsbildung entwürdigt. Sie ist gar nicht so stark, wie immer alle landein und landaus lauthals schreien. Die Berufsbildung zehrt von Ihren Erfolgen aus den letzten 30 Jahren. Viel Fleisch ist nicht mehr am Knochen – oder wie will man sonst erklären, dass 2019 rund 8’000 Lehrstellen nicht besetzt werden konnten? Hat denn die Wirtschaft gegenüber 2018 auch rund 8’000 neue Lehrstellen mehr geschaffen? Und gegenüber 2017 wiederum 9’000 Lehrstellen? Sehr unwahrscheinlich – mit Verlaub.
Interessant ist deshalb auch das Statement eines Marketing-Lernenden bei uns. Er sagt: Seine Lehrpersonen (Kanton Zürich) hätten den Berufswahl-Klassen geraten, sich nicht direkt auf Lehrstellenplattformen der Lehrbetriebe online zu bewerben – ohne Begründung. Vielmehr wäre es besser, wenn sie sich mit Papier-Dossiers bewerben würden. Meine Frage: Wie in aller Welt kann man einen solchen Mist dozieren? Sind solche Lehrpersonen eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Oder sind sie auf irgendeine Art und Weise die Günstlinge von kostenpflichtigen Lehrstellenplattformen, welche sich mit Hochglanz-Marketing-Contents anbieten und vom Geld der Lehrbetriebe leben?
Dass die Lernenden die Zukunft von morgen sind, klingt schon toll – aber handeln die Verantwortlichen auch danach?
Herzlichst
Rolf Siebold
Liebe Gesa, sehr geehrter Herr Siebold,
um die angesprochene „Scheinwelt“ und die anschliessende „Anerkennungs-Intensität“ systematisch zu diskutieren und notwendige Massnahmen anzugehen sollten wir den Vorschlag von Gesa aufgreifen und uns bei der DHL in Pratteln treffen.
Was die „Scheinwelt“ betrifft halte ich eine betriebsübergreifende Berufsorientierung für wichtig. Es geht in dieser Phase überhaupt nicht um die Betriebe als solche, sondern nur um die Schüler*innen, deren Neigungen, Erwartungen, etc.
Ein gutes Beispiel war m.E. die BO-Show der Firmen Merck, Evonik, Döhler und ENTEGA in Darmstadt.
Auch der BASF Ausbildungsverbund, eine Initiative der BASF SE in Kooperation mit den Industrie-, Handels- und Handwerkskammern, Arbeitsagenturen und Chemieverbänden in der Metropolregion, hat es sich zum Ziel gesetzt, noch mehr junge Menschen in der Region für eine Ausbildung fit zu machen und ihnen bei der Berufsorientierung betriebsübergreifend unter die Arme zu greifen. Mehrere Programme sorgen dafür, den Schüler*innen einen möglichst realitätsnahen Einblick in die Berufe zu geben und damit „Scheinwelten“ möglichst zu vermeiden.
Ein weiteres gutes Beispiel mit Blick auf Berufsorientierung/“Scheinwelt“ ist der Azubi-Blog der Firma Würth.
Auf diesem Blog wird u.a. auch über den Ausbildungsalltag berichtet; ein guter Weg, wie ich finde, um der „Anerkennungs-Intensität“ entgegenzuwirken.
Dies sind nur Beispiele und sicherlich nicht „der Weisheit letzter Schluss“, aber Massnahmen wie diese zeigen auf, dass etliche Unternehmen „den Schuss gehört haben“ und agieren.
Beste Grüsse
Volker M.
Nachtrag zur Einstiegsfrage: „Verliert die Berufsbildung die Rolle der Nachwuchsförderung?“:
Zurzeit beschäftige ich mich mit dem Thema Digitale Ethik. Sarah Spiekermann, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Wirtschaftsuniversität Wien, hat hierzu ein Buch veröffentlicht und zum Thema „Wissen im digitalen Zeitalter“ u.a. folgendes geschrieben:
Das Erlernen und Studieren der realen Welt kann nur über eine Lehre und praktische Ausbildung erfolgen; doch gerade dies geschieht immer seltener. (…) Dadurch haben heute immer weniger Leute praktische Erfahrungen, wie man mit der realen Welt interagiert. (…) Eine Stärkung der Lehrberufe und Fachausbildungen müsste das tiefere Verständnis der Substanz neu beleben; nur so lassen sich moderne Techniken und digitale Analysen aus meiner Sicht effektiv nutzen. Junge Menschen sollten sich einen fundierten Einblick in die konkreten Bedingungen einer Branche bzw. eines Milieus verschaffen und sich reale Fähigkeiten erarbeitet haben, bevor sie realitätsfern Zahlen in diesen analysieren oder gar Systeme herstellen.
Wenn Politiker meinen, wir sollten die digitale Transformation auf der Basis von Big Data, Datenwissenschaften und Online-Lernplattformen vorantreiben und könnten langfristig das Handwerk weiter abwerten und Fachausbildungen mit Realitätsbezug den Hauptschulabgängern überlassen, dann werden sie den Fortschritt in ihrem Land an der Basis zerstören, weil keiner mehr das Wissen über die reale Welt zur Verfügung stellen kann und niemand mehr in der Lage sein wird, Innovation überhaupt zu denken.
Sehr geehrte Herren,
vielen Dank für die sehr wertvollen Inputs und den sehr gewinnbringenden direkten Austausch am 10. Juli 2019. Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass dieser „Scheinwelt“ unbedingt mehr Beachtung geschenkt werden muss. Des Weiteren sollen die Unternehmen während der Selektion auch die Eltern und Lehrer mit einbinden – die Frage ist nur: wie und wann? Unternehmen können in Schulklassen gehen und als Coach/Ausbilder oder Lernende(r) aus dem beruflichen Alltag 1:1 berichten. Sinnvoll ist, dass wenigstens ein(e) Lernende(r) mitgeht und so der direkte Kontakt zu den Schülern und der Lehrerschaft hergestellt werden kann.
Die Eltern sollten unbedingt frühzeitig selbst erleben, was Lehrbetriebe anbieten und ihrerseits von ihren zukünftigen Auszubildenden erwarten, damit von Anfang an „mit offenen Karten gespielt“ wird. Ziel ist, dass Eltern und Jugendliche den gleichen Wissensstand haben und sich über die jeweilige Unternehmung mit den anzubietenden Lehrberufen austauschen können. Geeignet hierzu sind sicher Schnuppernachmittage, nach welchen abends die Eltern dazustossen können und sehen, was am Nachmittag gelaufen ist, inkl. der detaillierten Lehrberufsvorstellungen abends, wo alle Informationen 1:1 übermittelt werden:
– Welche Lehrberufe werden angeboten?
– Wie ist der Ablauf der jeweiligen Lehre?
– Was wird von den zukünftigen Lernenden erwartet?
– Wie läuft die Selektion ab?
– YouTube-Sequenzen von diesen Berufen 1:1 aus dem Alltag wieder gegeben
– Sonnen- und Schattenseiten aufzeigen und Lernende berichten lassen
– dem Aufbau einer Scheinwelt entgegensteuern
Ich bin überzeugt, dass die Berufliche Grundbildung mit dem nötigen Einsatz in den einzelnen Unternehmen weiterhin sehr viel Wertvolles für die zukünftigen Mitarbeitenden von morgen leisten kann.
Hoffen wir, dass die Anzahl angebotener Lehrplätze wieder ansteigt. Die Unternehmen müssen umdenken und bereit sein, die Extrameile zu gehen, damit Gegensteuern zur Scheinwelt, innovative Herangehensweisen und die Einbindung junger Mitarbeitender samt deren Erwartungen auch wirklich umgesetzt werden.
Lernende sind die Zukunft von morgen!
Beste Grüsse
Gesa Gaiser
Liebe Gesa,
vielen Dank, dass du deine Eindrücke als Apprenticeship Managerin bei DHL Schweiz mit uns geteilt und auf den Punkt gebracht hast.
Du gehst in deinem Kommentar im Schwerpunkt auf Scheinwelt und auf Bezugsgruppen ein. Ich stimme dir ausdrücklich zu, dass Ausbildungsbetriebe in dieser Phase der Ansprache und der Gewinnung von Lernenden mehr tun müssen – dies authentisch, auf Basis der Value Proposition und ohne Aufbau einer Scheinwelt.
Häufig höre ich das Argument: Das sollen wir nun auch noch machen?! Dafür haben wir weder Zeit noch Ressourcen.
Meine Meinung ist: In den letzten ca. sieben Jahren wurde vielerorts viel zu viel Zeit und Ressourcen für Social Media – häufig mit dem Ziel, eine Scheinwelt zu zeigen! – und SEA/SEO aufgewandt; dies war ja auch „schicker“ und „moderner“, als sich mit jungen Menschen und ihren Lebenswelten oder mit Bezugsgruppen auseinanderzusetzen, um Jugendliche auf positiv erlebte Weise an den Ausbildungsbetrieb zu „binden“. Dies rächt sich nun! Ich habe grundsätzlich kein Problem mit einem massvollen Einsatz dieser Tools; viele Ausbildungsbetriebe haben den Bogen jedoch deutlich überspannt.
Wenn wir uns das nächste Mal zum Erfahrungsaustausch bei dir resp. DHL Schweiz in Pratteln treffen, dann sollten wir – schlage ich vor – über die Ausgestaltung eines Active Sourcing sprechen; d.h. über eine systematische, persönliche Suche nach geeigneten Lernenden unter Einbindung länger laufender Praktika.
Ja, das ist Aufwand und kostet Zeit und Ressourcen. Dieser ist jedoch moderat im Vergleich zu dem Aufwand, den man betreiben muss, wenn der Prozess der Talent-Ansprache und -Gewinnung nicht effektiv gestaltet wird.
Beste Grüsse
Volker
Lieber Herr Mayer,
Herzlichen Dank für diesen interessanten Blog-Beitrag.
In der Schweiz wird die berufliche Grundbildung gerne und oft gelobt. Sei es von Politik, von Medien, oder von Organisationen welche hauptsächlich davon leben. Mit Blick hinter den Vorhang, sieht es m.E. ganz anders aus und hier bin ich nicht alleine mit dieser Auffassung. Wie Sie erwähnten, waren in den Medien in den letzten Monaten viele Berichte präsent, in denen es um bevorstehenden Fachkräfte-Mangel im ITC-Sektor ging, um über 40’000 in der Zukunft fehlende Handwerker und zu guter Letzt wie jedes Jahr; rund 8’000 Lehrstellen konnten im ganzen Land nicht besetzt werden. Hier schreiben viele Leute, wie schlecht es offenbar um die zukünftige Wirtschaft stehen wird. Aber niemand hinterfragt, warum diese Entwicklung unaufhörlich so fortschreitet. Wir sehen jährlich, dass diese Mangelerscheinungen stetig zunehmen. Aber was tun wir dagegen? Was tut die berufliche Grundbildung bzw. was tun die Lehrbetriebe dagegen? Gerade im verarbeitenden Gewerbe tun sie m.E. viel zu wenig. Sie bewerben die Schüler, stellen sie ein und lassen sie dann häufig einfach „mitlaufen“.
Mit Blick auf die Anerkennungs-Intensität gegenüber Lernenden (über welche man bisher noch nie öffentlich gesprochen hat), muss jetzt eigentlich jedem vernünftig denkenden Lehrbetrieb ein Licht aufgehen. Die Lehrbetriebe müssten selbstkritisch einsehen, dass die zunehmenden Rekrutierungsschwierigkeiten zum grossen Teil hausgemacht sind. Sehr oft werden diese – als Ausrede, oder nicht – der Demographie und der abnehmenden Bewerberqualität zugeschoben.
Diesen Negativ-Trend versuchen die Lehrbetriebe damit zu kompensieren, indem sie sich nicht nur bei der Ansprache von der allerbesten Seite zeigen, sondern auch danach im Praktikum. Bei diesem ginge es eigentlich darum, dem Schüler die Lehrberufe mit all ihren Facetten zu zeigen und den Schüler nicht einfach „mitlaufen“ zu lassen.
„Nur ein wirklich guter Lehrbetrieb zeigt in einem Praktikum neben den Sonnenseiten auch die Schattenseiten eines Lehrberufs.“
Kommt es dann zur Lehrvertragsunterzeichnung, zeigen sind alle involvierten Parteien vorerst zufrieden. Doch was passiert in vielen Fällen? Der Schüler, die Eltern und Lehrer wurden durch eine Scheinwelt geführt. Dem Schüler wird häufig vorgemacht, wie toll der von ihm favorisierte Lehrberuf ist. Tendenziell werden dann die Sonnenseiten hervorgehoben, denn man will ja den Bewerber nicht verlieren. In diese – von der beruflichen Grundbildung selbst inszenierten Scheinwelt – werden die Jugendlichen gelockt, in der Hoffnung, dass sie dann das Employee/Apprentices Experience bis zum Abschluss durchhalten.
Diese Scheinwelt endet aber in den meisten Fällen beim Eintritt in die berufliche Grundbildung. Der Lernende wird zu Teams geschickt, die er vorher noch nie gesehen hat. Er wird auf Projekte gesendet, deren Umfang und Grösse sein Vorstellungsvermögen übersteigen. Er wird nun mit den Schattenseiten seines Lehrberufs konfrontiert. Der Einstieg in sein Berufsleben erlebt er (weil in der Adoleszenz-Phase) ausgeprägt negativer, als eine Erwachsene-Person.
Kommt dazu, dass Lernende von vielen Lehrbetrieben als billige Arbeitskräfte missbraucht werden und ihre Arbeit, bzw. ihre Arbeitsleistung (die für einen ehemaligen Schüler vernachlässigbar wäre) unzureichend gewürdigt werden. Auch werden Lernende viel zu oft sich selber überlassen. D.h. sie mutieren dann zu stummen Mitläufern, oder werden von den Mitarbeitern als lästiges Anhängsel betrachtet und in Folge dessen vielfach ignoriert. Diese Ausgrenzung und Ignoranz erfahren die Lernenden sehr häufig wie physischer Schmerz. Ihre Motivation sinkt bereits im 1. Lehrjahr. Dies ist auch anhand der Anzahl Lehrabbrüche zu sehen, wenn Berufsschulen ganze Klassenzüge neu zusammenlegen müssen, weil so viele Jugendliche mit ihrer neuen Situation unzufrieden und unglücklich sind. Selbstzweifel machen sich bei ihnen breit, ob sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Dies führt dann nicht selten zu Lehrabbrüchen.
Die Anerkennungs-Intensität der Lehrbetriebe gegenüber den Lernenden nimmt nach der Lehrvertragsunterzeichnung stetig ab. Aber als wichtiger Bestandteil der Gesamtkalkulation sind die Lernenden natürlich plötzlich sehr wichtig. Mich hat vor ein paar Jahren ein Berufsbildungsverantwortlicher eines grossen Schweizer Mitbewerbers an einer Tagung mit folgendem Satz angesprochen:
„Ist es auch so, dass bei euch die Lernenden ein Wirtschaftsfaktor sind? Bei uns ist es so – bei Ihnen auch?“
Beste Grüsse
Rolf Siebold
Geschätzter Herr Siebold,
vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar und die Vertiefung des Schwerpunktes zur Anerkennungs-Intensität gegenüber Lernenden.
Sie zeichnen ein sehr selbstkritisches Bild, wie ich es bisher selten gehört bzw. erlebt habe.
Insbesondere Betriebe in der Schweiz haben sich noch vor wenigen Jahren entlang unserer Studien im Vergleich mit deutschen und österreichischen Ausbildungsbetrieben dadurch ausgezeichnet, dass sie häufig mehrere und auch wenigstens zwei Wochen andauernde Praktika angeboten haben.
Unsere statistischen Untersuchungen haben sogar ergeben, dass die Anzahl an Ausbildungsabbrechern deutlich niedriger war als in den Nachbarländern und die Lernenden sehr häufig aussagten, dass sie ihren Traumberuf gefunden hätten; dies als Wirkung resp. Folge der Praktika.
Dies scheint sich offensichtlich in den letzten drei Jahren v.a. im gewerblich-technischen Bereich deutlich zu verändern. Auch die Anzahl und die Länge der Praktika nimmt – das habe ich nun schon mehrfach wahrgenommen – ab.
Warum spielen die Ausbildungsbetriebe derart mit ihrem Erfolgsmodell Berufsbildung?
Bleibt zu hoffen, dass ihr Appell nicht nur gehört wird, sondern zu einem Umdenken führt.
Beste Grüsse
Volker Mayer
Noch kurz zur skizzierten Scheinwelt (Zeitraum von der Erstansprache bis zur Vertragsunterzeichnung): Mit dem Konzept der Candidate Experience, der Erlebenswelt der Kandidaten, eröffnen sich dem Unternehmen grundsätzlich neue Wege, Recruitingvorgänge bewerbergerechter und erfolgreicher zu gestalten. Bewerber, egal ob final eingestellt oder im Prozess abgelehnt, werden in ihren Bedürfnissen ernst genommen und möglichst authentisch über den Betrieb und potenziellen Beruf informiert. Ein professionelles Candidate Experience Management vermeidet also eine Scheinwelt, schützt die Arbeitgeberreputation, stärkt die Arbeitgebermarke und trägt dazu bei, passendere Kandidaten zu gewinnen.
Der Aufbau einer Scheinwelt führt nicht nur zu mehr Ausbildungsabbrüchen (vgl. NZZ vom 1.8.2019: Rund jeder vierte Lehrvertrag wird aufgelöst, die meisten bereits im ersten Jahr), sondern schadet – auch über Mouth-to-mouth-Marketing – dem Unternehmen langfristig: Reputation / Branding werden schlechter und weniger grundsätzlich geeignete Bewerber*innen setzen das Unternehmen auf ihre Shortlist.