Viel Arbeit für Recruiter bei der Ansprache und der Gewinnung von BerufseinsteigerInnen: Der Fachkräftebedarf ist hoch, die Herausforderungen für Recruiter sind es auch – insbesondere mit Blick auf Pflege- und MINT-Berufe. Die Corona-Pandemie setzt dem Ganzen nun noch die Krone auf.

Manche Ausbildungsbetriebe stellen ihr Recruiting komplett ein, andere forcieren ihre Anstrengungen mit Blick auf Fachkräftenachwuchs. Ich beobachte einige interessante Entwicklungen, auf die ich nachfolgend detaillierter eingehen möchte.

Relevante Marketingkanäle

Messen und Veranstaltungen können nur unter Auflagen stattfinden und verlieren, obwohl sie bei vielen SchülerInnen und Ausbildungsverantwortlichen beliebt sind, aktuell an Bedeutung. Auch die Präsenz an Schulen ist derzeit nicht möglich.
Da zahlreiche Mitarbeitende im Home-Office arbeiten sind kaum Praktika möglich, was grundsätzlich ein guter Ansatz für die Azubisuche ist.

Nach wie vor – dies belegen auch die jährlichen U-Form-Studien – nutzt die junge Zielgruppe v.a. Google. Social Media Kanäle liegen im einstelligen Prozentbereich! Eigene Untersuchungen kommen zum selben Ergebnis.

Kurz gesagt kann man zwei Gruppen an Betrieben unterscheiden: Gruppe 1 entscheidet über relevante Marketingkanäle auf Basis einer fundierten Zielgruppenanalyse (vgl. Würth Gruppe) und nutzt Tools wie die Value-Proposition-Canvas. Relevante Marketingkanäle sind quasi das Ergebnis dieser Vorgehensweise. Gruppe 2 setzt bei Tools wie Active Sourcing und Social Media an und versucht darüber, möglichst viele SchülerInnen für relevante Berufe zu gewinnen. Bei diesem Vorgehen steigen die Kosten, jedoch nicht die Anzahl geeigneter BewerberInnen.

Bedeutung des Marketingtrichters

Der Trichter bildet die Candidate Journey als einen mithilfe von Web-Analytics messbaren Konversionspfad ab (vgl. Touchpoint-Befragungen). Unterschiedliche Phasen sind hierbei zu unterscheiden (vgl. Beiträge von Jan Kirchner im HRM):

  • Wie viele KandidatInnen besuchen die Karriereseite? Hier geht es darum, wie viele BewerberInnen im relevanten Markt verfügbar sind und wie viele dieser potenziellen KandidatInnen mit den eigenen Personalmarketing-Maßnahmen erreichbar sind. Welche Kanäle sind also wirklich sinnvoll und wie können sie mit dem investierten Budget bestmöglich genutzt werden?
  • Wie viele potenzielle BewerberInnen besuchen Ihre Stellenbörse oder Stellenanzeigen? Durch einen genauen Blick auf die Bewerberströme zwischen den verschiedenen Phasen kann die Conversion Rate berechnet werden, um so eventuelle Störfaktoren innerhalb des Trichters zu erkennen. Es gilt nachzuvollziehen, wie viele Besucher beim Sprung von der Unternehmensseite auf die Karriereseite oder von der Karriereseite auf die Stellenbörse verloren gegangen sind.
  • Verwandeln Sie Ihre Besucher auch in Bewerber? Die Königsdisziplin im Recruiting ist die Verwandlung der Webseitenbesucher in Bewerber. Anhand der Conversion Rates können Erkenntnisse dahingehend gewonnen werden, ob es ein Problem auf dem Weg von Stellenbörse zu Stellenanzeige oder von Stellenanzeige zur Bewerbung gibt.
  • Aus welchen Quellen stammen Ihre Bewerber und wie viel kosten sie pro Quelle? Nicht nur die absolute Zahl an Bewerbungen ist wichtig, sondern auch wie teuer die Quelle war, über die sie gekommen sind. Im besten Fall kann auf diesem Wege auch herausgefunden werden, welche Quelle nicht nur die meisten Besucher, sondern auch die meisten Bewerbungen einbringt und wie teuer eine einzelne Bewerbung aus der jeweiligen Quelle ist (Kosten pro Bewerbung). Hierzu hat die STRIMacademy interessante Stretch Profiles mit Werten nach Branche, Unternehmensgröße, etc. vorliegen, die für Benchmarks genutzt werden können.

Digitales vs. analoges Recruiting

Bedingt durch Corona sind derzeit viele Ausbildungsbetriebe „gezwungen“, sich auf die digitalen Kanäle zu beschränken. Die TK hat quasi komplett ihre Präsenz-Vorstellungsgespräche eingestellt und organisiert die Bewerbergespräche als Videochat. Eigene Untersuchungen sowie die 2020er U-Form-Studie kommen interessanterweise zum Ergebnis, dass dies sowohl für Betriebe als auch für Schüler nur die zweitbeste Alternative ist. So würden SchülerInnen beispielsweise lieber Bewerbungsgespräche auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, als diese am Telefon oder per Video zu führen.
Laut einer aktuellen Personalleiterbefragung sind virtuelle Jobinterviews für 54 Prozent der Befragten Personaler keine Option.

In einem separaten Beitrag „Künstliche Intelligenz im Recruiting – human in the loop“ bin ich u.a. auf Big Data, Matching-Tools, Chatbots, KI und smarte Algorithmen eingegangen. Echte Praxisbeispiele nehmen nur langsam zu; dies weniger aus Budgetgründen, sondern v.a. deshalb, weil bei Recruitern noch Wissenslücken existieren. Im Schnitt kennt sich nur jeder zweite mit den neuen Anwendungsmöglichkeiten aus.

Fakt ist: Wenn Künstliche Intelligenz (KI) menschliche Urteilskraft oder Kommunikation im Auswahlprozess ersetzt, stößt das bei den Digital Natives mehrheitlich auf Ablehnung, egal ob es um das Vorstellungsgespräch oder die Vorauswahl durch einen Algorithmus handelt („Autonomous Intelligence“). Dort, wo KI den Prozess unterstützt, die letztendliche Entscheidung mit Blick auf Cultural Fit aber beim Recruiter verbleibt („Augmented Intelligence“), sind höhere Akzeptanzniveaus festzustellen.

Evidenz vs. Bauchgefühl

Im Marketing und Recruiting geht heute nichts mehr ohne Kennzahlen. Diese Zahlen beruhen häufig auf dem oben skizzierten Trichter (vgl. Talent Analytics). Dieser schafft Klarheit und Messbarkeit, da mit seiner Hilfe schnell festgestellt werden kann, auf welcher Stufe es hakt und an welchen Stellschrauben gedreht werden muss.
Der Trichter verdeutlicht anschaulich die Messbarkeit der einzelnen Schritte innerhalb der gesamten Online Candidate Journey. Durch das Analysieren der einzelnen Phasen ist es möglich, den eigenen Ablauf kritisch zu durchleuchten.

Die unternehmenseigene Karriereseite als Recruiting-Drehkreuz in der Candidate Journey bietet den perfekten Ausgangspunkt; zumindest dann, wenn die eigene Seite nahtlos getrackt werden kann.
Es geht nicht darum, das eigene Bauchgefühl und die Intuition aus dem Recruiting komplett zu verbannen – beides kann weiterhin als Gradmesser im persönlichen Gespräch genutzt werden. Doch in Zeiten von Web-Analytics-Tools gibt es auf der Suche nach dem richtigen Bewerber effektivere Steuerungswerkzeuge.

Fazit

Zurück zur Einstiegsfrage dieses Beitrags: Was ändert sich? was bleibt?

Beginnen wir mit „was bleibt?“: Es bleibt die Präferenz der Zielgruppe junger BerufseinsteigerInnen – dies seit Jahren, auch wenn uns Tool-Anbieter etwas anderes erzählen. Außerdem bleibt der zunehmende Druck, geeignete Fachkräfte für den Betrieb zu gewinnen.

Was ändert sich? Da Messen und Veranstaltungen in Corona-Zeiten gar nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang stattfinden müssen Betriebe auf alternative Wege umsteigen. Einige dieser Betriebe haben bereits kapituliert und fahren die Berufsausbildung zurück. Einige wenige ändern ihr bisheriges Vorgehen und binden strategische Analysen konsequent mit ein. Sei richten ihr Vorgehen und kontinuierliche Verbesserungen an der Candidate Journey aus und identifizieren gezielt Schwachpunkte. Wieder andere Betriebe versuchen es nach wie vor mit „weiter so“.

Als eine Konsequenz aus diesen Entwicklungen stellen zahlreiche Betriebe ihre Karriere-Website, wo sie die (Daten-)Hoheit haben, in den Mittelpunkt und fahren Tools, wo sie nicht die Urheberrechte besitzen, zurück. Außerdem bauen sie Datenbestände auf und aus, um Algorithmen zu erkennen und gezielter zu steuern.

Das schließt nicht aus, KI, Chatbots, etc. mit einzubinden – aber eben nur dort, wo es aus Sicht der Zielgruppe Sinn ergibt und in Kennzahlen positiv auswirkt.

Weitere Informationen liefern die jährlichen Foren der STRIMacademy; die nächste Fachtagung findet am 24.-25. Juni 2021 im Hotel Schloss Edesheim statt.