Auslöser für diesen Beitrag ist eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2021, die ich kürzlich gelesen habe und die mich seitdem beschäftigt.
Die in dieser Studie beschriebenen Herausforderungen und Lösungen beschäftigen mich aus der Sicht eines Personalstrategen, der sich u.a. folgende Fragen stellt:
- Haben wir als Führungskräfte und Personalleiter die aktuelle Faktenlage in Deutschland verstanden?
- Wenn die Faktenlage klar ist; welche Ziele streben wir an und wie?
- Sind wir bereit, die dafür notwendigen Fähigkeiten zu erlernen, wenn wir sie denn noch nicht haben?
Vier disruptive Trends
Die o.g. IW-Studie 2021 beschreibt vier Disruptionen; Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie, sowie De-Globalisierung.
Für den Erfolg von Digitalisierung und Dekarbonisierung sind Innovationen notwendig. Dies erhöht strukturell den Bedarf an MINT-Kräften, deren Angebot allerdings durch den demografischen Wandel rückläufig ist.
Dieser Wandel wird in den kommenden zehn bis 20 Jahren, also bis ca. 2040, zu einem erheblichen Rückgang des Fachkräfteangebots in Deutschland führen – insbesondere im MINT-Bereich. Auf genaue Zahlen gehe ich im zweiten Absatz ein.
Was sind die Ziele, was die Maßnahmen?
Ziele
Für die Bildungspolitik ergeben sich daraus klare Zielsetzungen:
- Fokussierung auf Digitalisierungspotenziale – auch in der Bildung,
- Förderung von MINT-Kompetenzen,
- Verbesserung von Bildungschancen durch gute Ganztagsschulen, und
- Ausbau der akademischen Weiterbildung an Hochschulen.
Faktenlage und Ableitungen
In den kommenden fünf Jahren hat die Fachkräftesicherung einen sehr großen Stellenwert. Diese konnte durch eine stark steigende Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen, von Frauen und von Zuwanderern bisher zwar einigermaßen auf hohem Niveau gehalten werden. Durch den Übergang geburtenstarker Jahrgänge in den Ruhestand wird die Dynamik aber zunehmen.
Das einhellige Fazit aller Experten – EFI, SVR, IW, BIBB, IAB – ist: Fachkräfteengpässe drohen vor allem in den MINT-Qualifikationen!
Berechnungen dieser Experten zufolge
- wird das Angebot an akademisch ausgebildeten Experten für komplexe Tätigkeiten zwischen den Jahren 2020 und 2040 von 6,4 auf 8,6 Millionen steigen.
- Im Gegenzug dürfte das Angebot an Arbeitskräften für fachlich ausgerichtete Tätigkeiten von 20,7 auf 18,3 Millionen sinken.
- Die Zahl der Arbeitskräfte für komplexe Spezialistentätigkeiten würde ebenfalls zurückgehen, und zwar von 12,9 auf 12 Millionen.
Rolle der Strategischen Personalplanung und insbesondere der Berufsausbildung
Dabei ist zu beachten: Als Treiber der Innovationen sind nicht nur akademische Qualifikationen von hoher Bedeutung. Auch die duale berufliche Ausbildung spielt eine wichtige Rolle. Laut IW-Studie 2021 nimmt der jährliche Ersatzbedarf im MINT-Bereich zu, bei beruflich qualifizierten Fachkräften noch mehr als bei Akademikern! Hierfür müssten auch mehr Frauen für eine Ausbildung oder ein Studium in den MINT-Fächern gewonnen werden.
Wir wissen: Notwendige Maßnahmen mit Blick auf MINT-Qualifikationen sind bereits im Schulalter zu ergreifen und wirken sich daher erst langfristig aus. Es ist also höchste Zeit, Worten Taten folgen zu lassen, wenn wir den „Innovations-Zug“ nicht verpassen wollen.
Seit etlichen Jahren beschäftigen sich Unternehmen deshalb mit Strategischer Personalplanung. Es gibt hierzu ausreichend Evidenz, um diese Projekte richtig aufzusetzen und zu guten Ergebnissen zu führen. Ein aktuelles Beispiel ist die Australia and New Zealand Banking Group (ANZ), die u.a. in der Technology Division Szenarioplanungen und Prognosemodelle zur Verbesserung der Personalplanung und zum Treffen besserer Entscheidungen nutzt.
Zahlreiche eigene Studien und Bücher im Kontext der Berufsausbildung mit kreativen Praxisbeispielen von BASF, John Deere, Lufthansa Technik, Siemens u.v.m. belegen deren hohe Bedeutung – v.a. auch mit Blick auf MINT-Kompetenzen und -Berufe.
Vor wenigen Monaten hat McKinsey im Beitrag „Getting skills transformations right: The nine-ingredient recipe for success“ aktuelle Erkenntnisse kurz und bündig auf den Punkt gebracht. Nichts desto trotz ist die Ergebnisqualität hinsichtlich MINT-Qualifikationen quantitativ und qualitativ bis dato absolut unzureichend.
Es fehlt „die letzte Meile“!
Wieder einmal haben wir offensichtlich kein Wissensproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.
Die statischen und häufig komplexen Dashboarding-Tools, die im letzten Jahrzehnt entwickelt und eingesetzt wurden, werden im kommenden Jahrzehnt nutzlos. Zudem ist Technologie nur ein Aspekt, um das volle Potenzial der Daten auszuschöpfen. Menschen, Prozesse und Kultur bleiben entscheidende Elemente jeder erfolgreichen Workforce-Analytics-Initiative.
Mit moderner Self-Service-Analytics sind Manager einer Sparte oder eines Geschäftsbereiches in kurzer Zeit und moderatem Trainingsaufwand selbst in der Lage, ihr Geschäft und die dafür notwendigen Ressourcen auf Basis valider Daten zu planen. Sie steigern damit die Geschwindigkeit, Effizienz, Genauigkeit und das Vertrauen in die Erkenntnisse, die sie aus Kunden-, Geschäfts- und Personaldaten gewinnen. Schließlich sind sie auch für den Umsetzungserfolg verantwortlich!
In Zahlen: Eine Befragung des HBR ergab eine signifikante Steigerung der Kundenbindung/-zufriedenheit (41 %), des Mitarbeiter Engagements (36 %), sowie der Produkt- und Servicequalität (32 %). Daneben berichteten die Befragten von erheblichen Zuwächsen bei Produktivität (28 %), Innovation (26 %), Umsatzwachstum (22 %), Marktposition (21 %) und Rentabilität (17 %).
Voraussetzung für solche Ergebnisse ist „die letzte Meile“. Hier wird entschieden, welche Erkenntnisse weiterverfolgt und in konkreten Maßnahmen umgesetzt werden. Brent Dykes legt in seinem Beitrag „Data Analytics Marathon: Why Your Organization Must Focus On The Finish“ anschaulich dar, dass viele Unternehmen „das Rennen nicht vollständig beenden.“ Nach der Datensammlung, -aufbereitung, -analyse und gewonnenen Erkenntnissen „ist es wahrscheinlicher, dass sie aussteigen und ein neues Rennen starten, als einen ganzen Marathon bis zum Ende zu laufen. Infolgedessen laufen sie ständig, beenden aber nie etwas.“ – leider ein häufiges Problem in der Strategieumsetzung!
Fragen wir uns selbst: Wo befinden wir uns denn gerade im Rennen um die dringend notwendigen MINT-Kompetenzen? Haben wir unser Ziel noch im Blick? Was tun Recruiting, Aus- und Weiterbildung und Mitarbeiterbindung dafür, dass wir das Rennen erfolgreich beenden?
Fazit
Durch Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung werden die Bedarfe in den MINT-Berufen künftig weiter zunehmen. MINT-Qualifikationen sind besonders wichtig für Innovationen, jedoch fehlen zahlreiche MINT-Fachkräfte.
Noch zu viele Organisationen geben Lippenbekenntnisse ab und führen das Wort „strategisch“ als Alibi mit sich herum. Um aber konsequent datengesteuert und vom Ziel her zu agieren, müssen sich Menschen auf allen Ebenen der Organisation ändern und bis zur letzten Meile laufen.
Dem kann und muss ich inhaltlich leider voll zustimmen. Es ist wirklich eher ein Umsetzungsproblem, was aber aus meiner Sicht daran liegt, dass man aufgrund der sich laufend stark ändernden – internen und externen – Rahmenbedingungen zu wenig auf die Lösung konzentriert.
Sehr geehrter Herr Mag. Charwat,
herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Die Beeinflussbarkeit der Rahmenbedingungen ist sicherlich nicht immer und vollumfänglich gegeben. Insbesondere bei den externen Rahmenbedingungen – die PESTEL-Analyse lässt grüßen – kann man sicherlich an einigen Stellen schon eher von Restriktionen als von Rahmenbedingungen sprechen. Was die internen Rahmenbedingungen betrifft, so sehen die Handlungsmöglichkeiten häufig besser aus. Ich denke da beispielsweise an kulturelle Anpassungen, Maßnahmen zur Schließung von Kompetenzlücken, sowie an Kosten- bzw. Ressourcenverteilungen.
Dafür ist es notwendig, „mit einem langen Atem“ – in der Berufsausbildung denken wir locker 5-6 Jahre in die Zukunft – zu agieren und sich nicht zu sehr durch kurzfristige Interessen in die Kurzatmigkeit treiben zu lassen. Zahlreiche Beispiele belegen, dass sich die Berufsausbildung über die Zeit nicht nur rechnet, sondern mit Blick auf künftige Fachkräfte als sehr lohnende Investition zu betrachten ist. Dazu wünsche ich Ihnen weiterhin gutes Gelingen,
Ihr Volker Mayer, STRIMgroup
Lieber Volker,
danke für diesen sehr interessanten Beitrag.
Selbstverständlich sind die MINT Zahlen alarmierend und wir müssen alle was tun. Für mich gibt es neben Analytics und Kennzahlen noch 3 Dinge, die wir anpacken müssen:
1. Recruiting Efforts weiterhin verbessern, sodass diese auch die Generation Z ansprechen: https://drkpi.com/de/azubi-recruiting-trends-und-strategie-2022/#beispiele-recruiting-websites-und-blogs-im-usability-audit
2. In der Schule Efforts unternehmen, sodass die MINT Berufe auch bei Frauen populärer werden.
3. Die Kultur ändern (SEHR WICHTIG), d.h. die „Macho-Kultur“ in einigen Arbeitsgebieten wie beispielsweise auf Baustellen macht es in der Schweiz für Frauen ein Spiessrutenlaufen …
Wer will wo Arbeiten, wo Männer einem des Öfteren nachpfeifen UND anzügliche Bemerkungen machen /Witze reissen?
Neben den Kennzahlen gibt es noch viele kulturelle und bildungsmässige Arbeit, um den Fachkräftemangel hoffentlich mit neuen Talenten verringern zu können.
Lieber Urs,
kaum ist die Tinte trocken, hast du schon kommentiert, Wahnsinn!
Ich stimme dir bei allen drei Punkten zu. Verstärken möchte ich die ersten beiden:
(1) Die Recruiting Efforts, wie du sie nennst, bedingen m.E. die Jugendcluster, wie wir sie gemeinsam mit der HFT Stuttgart aus den SINUS Lebenswelten abgeleitet haben. In ähnlicher Form gibt es diese Erkenntnisse übrigens auch für die Schweiz. Diese Zielgruppen-Cluster halte ich für sehr wichtig. Danach kommt die Frage: Welche Rekrutierungskanäle sind für die einzelnen Cluster am erfolgreichsten?
(2) Die Efforts in den Schulen nehmen nach meiner Wahrnehmung bereits deutlich zu. Neben betriebsspezifischen Maßnahmen – das von mir im Beitrag genannte Beispiel BASF ist nur eines unter vielen – gibt es auch etliche überbetriebliche Initiativen wie z.B. das MINT-Botschafternetzwerk oder der Mint Aktionsplan – BMBF. Unsere Studien in den Betrieben haben gezeigt, dass man die damit einhergehenden Maßnahmen für Frauen anders ausgestalten muss als für Männer; die Anzeigen sind anders, die Informationstage verlaufen anders, das Wording ist anders, etc.
Nochmals besten Dank, dass du dir die Zeit für einen Kommentar zu diesem wichtigen Thema genommen hast!