Richtig: beide brennen. Ich kenne zahlreiche Berufsbildner bzw. Ausbilder, sowie Recruiter und Marketingfachleute, die für ihre Arbeit brennen, tagein tagaus. Gleichzeitig erinnern mich diese Menschen an Hem und Haw; kennen Sie die beiden? Wenn nicht, dann werden Sie hier fündig.
Die Gemeinsamkeit mit Kerzen hat nämlich auch eine Kehrseite – und zwar mit Blick auf notwendigen Fortschritt -, und zwar folgende: Das elektrische Licht wurde nicht durch Weiterentwicklung von Kerzen erfunden!
Ich meine, wir sind längst an der Stelle angekommen, an der Hem und Haw keinen Käse mehr finden und dringend elektrisches Licht benötigen. Heisst: Anstatt nun nach neuen Wegen zu suchen, um geeignete Bewerber*innen in ausreichender Anzahl für das Unternehmen zu finden, versuchen viele Berufsbildner, Kerzen weiterzuentwickeln (ich gebe zu: teilweise gibt man ihnen keine andere Chance); d.h.
- Stellenanzeigen zu überprüfen,
- Präsenzunterricht interessanter zu gestalten,
- Onlinetests eher in Ergänzung zu Papiertests im Unternehmen durchzuführen, sowie
- Facebook & Co. im Ausbildungsmarketing zu präferieren
und beklagen die auf Anspruchsdenken beruhende Grundhaltung vieler junger Menschen.
Elektrischem Licht käme es dagegen gleich, sich selbst zu verändern, das Alte loszulassen und sich auf neue Situationen einzulassen. Konkret stehen für mich dabei drei Handlungsfelder im Vordergrund:
- Strategische Personalplanung,
- Ausbildungsstrategie, und
- Evidenzbasiertes Handeln in der Berufsbildung.
Strategische Personalplanung
Strategische Personalplanung verbindet mittels mehrerer Arbeitspakete resp. Bausteine die Geschäfts- bzw. Geschäftsbereichsstrategie mit der Personalstrategie und -praxis, um sicherzustellen, dass das Unternehmen zum richtigen Zeitpunkt und vertretbaren Kosten die richtigen Mitarbeiter am richtigen Ort hat.
Informationen wie Personalbestandsdaten und Arbeitskräfteangebot sind ebenso dynamisch wie die Geschäftsanforderungen und -strategien des Unternehmens. HR-und Bildungs-Experten müssen sich daher darauf vorbereiten, Daten und Analysen – möglichst in Echtzeit – zu verwenden, um diese Änderungen zu überwachen und anzupassen, damit ihre strategischen Entscheidungen zur Personalplanung auf genauen Informationen und Trends basieren.
Weitere Blogbeiträge zur Strategischen Personalplanung finden Sie hier. In meinen Vorträgen in Zürich und Wien werde ich insbesondere auf Belegschaftssegmente, notwendige Kompetenzen und Qualifikationen, ein Vorgehen entlang der 3 B´s (buy, build, borrow), sowie die Pipeline-Readiness (Video) eingehen.
Ausbildungsstrategie
Das Talent Sourcing Canvas bildet die Grundlage, um die Logik der Wertschöpfung in der Berufsausbildung zu beschreiben:
- Der Schwerpunkt liegt auf dem Baustein der Zielgruppen/-segmente, der in Verbindung mit unseren Schüler- und Touchpointbefragungen immer transparenter wurde. Seit der Berufsbildungsstudie 2016 unterscheiden wir auf Basis der SINUS Lebenswelten mehrere Berufsorientierungscluster – getrennt für DE, AT und CH –, die für die Ansprache relevant sind.
- Schwerer tun sich die Experten mit der Anwendung strategischer Analysen, wie z.B. der Kulturanalyse, der Wettbewerbsanalyse, sowie der resultierenden SWOT-Analyse. Das Erarbeiten des Nutzenversprechens, der Value Proposition, steckt deshalb häufig noch in den Kinderschuhen.
- Seit der Ausdifferenzierung der Zielgruppen, damit einhergehender Touchpoints – zugehörige Befragungen beginnen auf Messen, in Schulen, etc. und enden mit der Zu- bzw. Absage an den Bewerber/die Bewerberin -, sowie identifizierter Erwartungen an den Beruf und den Betrieb gewinnt auch die Diskussion der Value Proposition nach und nach an Tiefe (siehe Blogbeitrag zu Value Proposition Canvas). Dieser Baustein beschreibt die Gesamtheit von Produkten und Dienstleistungen – im hier konkreten Fall: der Marketing-, Recruiting- und Bildungsverantwortlichen -, welche den Zielgruppen angeboten werden. Das Nutzenversprechen hilft den Segmenten, bestimmte Probleme zu lösen oder Bedürfnisse zu erfüllen.
Wie lange reden wir nun schon über Employer Branding? Über Value Proposition? Über Alleinstellungsmerkmale? Was machen wir aus den insgesamt 85.500.000 Ergebnissen, welche uns Google derzeit zu nur diesen drei Begriffen anbietet? Bisher nicht viel! Schnell verweisen wir auf fehlende Zeit und Budgets, auf Führungskräfte, die das alles nicht verstehen und auf die Zielgruppen, die eh machen, was sie wollen.
Dabei ist das Vorgehen klar: Entlang relevanter Marktentwicklungen bewerten Unternehmen den geschäftlichen Zusammenhang, priorisieren Handlungsfelder, stellen Hypothesen auf und führen eine Ursachenanalyse durch! Erst danach macht es Sinn, in die Konzeption und Entwicklung einzusteigen und Massnahmen umzusetzen, die kontinuierlich evaluiert werden (vgl. TRM-Fachtagung 2017: Talent-Akquisitionsstrategien).
Die Operationalisierung der Strategie in Massnahmen und Messgrössen ist immerhin bei rund 1/4 der Ausbildungsbetriebe bereits umgesetzt bzw. in Umsetzung. Gleichzeitig tun sich viele Recruiter und Ausbilder mit dem Strategie-Mapping (siehe obige Grafik) noch schwer.
Evidenz-basiertes Handeln in der Berufsbildung
Im Zuge einer effektiven Talentansprache und -gewinnung müssen Unternehmen einen systematischen, evidenzbasierten Ansatz entwickeln, um die Qualität ihrer Strategien zur Talentgewinnung und daran ausgerichteter Interventionen zu verfolgen und zu analysieren. Mehr Informationen zum Ansatz der STRIM entlang einer lernfeld-fokussierten Methodik finden Sie hier.
Zu häufig starten Organisationen gleichzeitig eine Reihe von Initiativen, ohne dass ein klares Verständnis darüber besteht, welche, wenn überhaupt, einen positiven Einfluss auf die Ergebnisse des Unternehmens haben. Es fehlen klare Aussagen zu Ergebnis und Wirkung!
Was sollte darüber hinaus getan werden? Hier einige Praxisempfehlungen:
- Es gilt der Grundsatz: Just because you can measure it, it doesn´t mean it matters!
- Nur wenige Kennzahlen, wie z.B. „Quality of hire“ und „New hire turnover rate“, haben Steuerungsrelevanz und sollten als KPIs hervorgehoben werden.
- In direkter Folge der Erweiterung der Rekrutierungskanäle sollte auch die Kandidatenbewegung – abgebildet im Recruitingfilter (auch: Rekrutierungstrichter) – untersucht werden.
- Bei der Analyse verschiedener Auswahlverfahren schneiden kognitive Leistungstests (Intelligenztests) bzgl. der Validität am besten ab. Interessant ist v.a. deren Kombination mit einem Integritätstest (20 Prozent höhere Validität!). Telefoninterviews, ACs, und Schulnoten sind vernachlässigbar.
- Der produktive Ertrag gibt an, welchen Lohn bzw. welches Gehalt einem Mitarbeiter über den Ausbildungszeitraum des Azubis hätte gezahlt werden müssen, wenn dieser die produktive Arbeit verrichtet hätte, die der Azubi in diesem Zeitraum erledigt hat.
- Die Gesamteffizienz der Berufsbildung wird durch einen Vergleich der effektiven Ausbildungskosten mit den Kosten der Personalbeschaffung einer Fachkraft ermittelt.
Traditionell wurde im Recruiting die Frage gestellt: „Ich möchte eine Planstelle besetzen. Wie sollte ich vorgehen?“. In der aktuellen Diskussion höre ich häufig die Frage: „Ich möchte jemanden Neuen. Wie weiss ich, woher die besten Leute kommen und wer am besten zu meinem Team passen würde?“ In der Zukunft wird man fragen: „Kannst du mir die besten Leute empfehlen, bevor ich sie brauche, damit ich proaktiv einen Talentpool geeigneter Kandidaten aufbauen kann?“
Hierzu sind u.a. folgende Verfahren hilfreich:
- Korrelationsanalysen (vgl. Predictive Analytics for Human Resources, Seite 103 ff.): Die Tabelle zeigt die Beziehungen zwischen Variablen unter Verwendung des Koeffizienten r. Die Werte reichen von -1 bis +1. Die stärksten Beziehungen sind +1 oder -1 am nächsten. Beispielsweise hängt die „time to fill“ von allen Massnahmen ab, mit Ausnahme des Gehalts, der Rekrutierungskosten und der Bewertung der Engagement-Umfrage. Es ist bemerkenswert, dass es mit der „speed to competency“ negativ korreliert. Mit zunehmender „time to fill“ sinkt die „speed to competency“.
- Regressionsanalysen (vgl. Whitepaper Employer Branding Content): Als Ergebnis dieser Studie lässt sich beispielsweise festhalten, dass die Social Media-Professionalität, die Unternehmensreputation und weiterhin das Recruiting-Budget, die Bezahlung und die Unternehmensgrösse einen signifikanten Einfluss auf den Stellenbesetzungserfolg haben.
Ein evidenz-basiertes Vorgehen spielt bei den Unternehmen und Ausbildungsbetrieben – unabhängig von deren Grösse und ERP-System – derzeit nur eine untergeordnete bzw. gar keine Rolle. Dies ergaben auch unsere Online-Befragungen im Vorlauf zur jüngsten Fachtagung. Knapp 16 Prozent der befragten Unternehmen konnten hierzu überhaupt Aussagen machen; einige Angaben davon waren rechnerisch falsch. Die Fachtagung „Strategische Personalplanung, Talentstrategien & Geschäftswachstum“ im November 2019 in Schloss Edesheim setzt deshalb den Schwerpunkt genau auf die oben skizzierten Fragestellungen und Analysen.
Fazit
In den Gesprächen treffe ich viele frustrierte Ausbilder*innen. Sie erkennen, dass die Weiterentwicklung von Kerzen nicht ausreicht und Entscheidungsträger kein Geld für elektrisches Licht „locker machen“. In der Regel gewinnt das operativ Dringliche (Azubis als „billige“ Arbeitskräfte) gegen das strategisch Notwendige (Azubis als künftig dringend notwendige Fachkräfte).
Wenn diese Ausbilder*innen aufgeben, dann haben wir in den Unternehmen verloren; wissend, dass es zu einer menschlichen Reife auch Eltern und Lehrer*innen benötigt, die wichtige Grundlagen in die jungen Menschen hineinlegen!
Die drei o.g. Handlungsfelder sollen Mut machen und einen gangbaren Weg aufzeigen. Sie standen bereits im Mittelpunkt des Ausbildersymposiums der IHK Darmstadt am 25. Oktober 2018 und bilden auch den „roten Faden“ beim Business Breakfast, das am 10. Juli 2019 in den Räumlichkeiten der Bouygues E&S InTec Management AG in Zürich stattfinden wird.
Man kann den Wettlauf um die besten Talente meiner Meinung nach nur gewinnen, indem man neue Wege geht. Wer den Mut hat, das zu tun, wird belohnt, sofern er eine klare strategische Linie verfolgt.
Lieber Herr Mayer,
meine nüchterne Betrachtung der beruflichen Grundbildung in der Schweiz ist natürlich schon etwas Gebäudetechnik-lastig. Allerdings glaube ich, mit Sicht auf 21 verschiedene Lehrberufe, unsere Situation und jene unserer Mitbewerber adäquat wiedergegeben zu haben. Auch aus der IG-Berufsbildung Schweiz | IGBB erhalten wir sehr ähnlich gelagerte Rückmeldungen.
Ein gutes Thema ist zum Beispiel die Initiative von der Elektro Schibli Gruppe „Frauen für den Beruf“. Eine super Sache, die Frauen für die Lehrberufe der Gebäudetechnik zu begeistern. Der grosse „Run“ ist m.W. bisher leider ausgeblieben. Aber so wie es IGBB dieses Jahr zurückgemeldet wurde, will man nicht aufgeben. Solche Initiativen sind sehr zu begrüssen. Doch hinsichtlich dessen, dass die kaufmännischen Lehrberufe und seit ca. 10 Jahren auch die pflegerischen Lehrberufe sehr beliebt sind, ein schwieriges Handlungsfeld.
Wir sprechen von einer Neuausrichtung der Berufsbildung. Die Spannungsfelder, in denen sich die Berufsbildung befindet, sind bekannt.
Die grosse Unbekannte ist m.E. die Demographie der Gesellschaft. Wenn die Zielgruppe sich „…zu höherem berufen fühlt, als für eine Berufslehre…“, dann ist dass eine dramatische Entwicklung.
Das Gegensteuern dieser Entwicklung wird der Berufsbildung in Selbsthilfe überlassen. Wie mir ein Medienschaffender von Radio-24 diese Woche erklärte, werden z.B. die Radio-Stationen dieses Thema auf dieser Flughöhe kaum in Eigeninitiative aufgreifen; es sein denn, Zitat: “ … diese Problematiken würden im schweizerischen Parlament in Bern thematisiert werden, dann würden die Medienschaffenden ebenfalls mitdiskutieren …“.
So liegt der Ball bereits wieder bei der Berufsbildung. Vielleicht liesse sich hier eine Initiative von Seite IGBB umsetzen, welche sodann das Parlament zur Diskussion auffordert, bzw. zwingt.
Wie nimmt die STRIM dieses Thema in Deutschland wahr? Was machen denn die Lehrbetriebe ganz konkret gegen den qualitativen und quantitativen Bewerberschwund? Ich stelle mir vor, dass dies nicht viel anders aussieht, als bei uns in der Schweiz.
Mit freundlichen Grüssen
Rolf Siebold
Geschätzter Herr Siebold,
die Initiative der Schibli Gruppe ist in der Tat eine super Sache [kurzer Einblick]. Ähnliche Initiativen gibt es auch in anderen Unternehmen. 2015 berichtete beispielsweise die BASF über die Initiative „mädchen liebt technik“ (vgl. „Die neue Berufsausbildung – strategisch, agil, wirtschaftlich, S 106-120, Beate Petry) [kurzer Einblick]. Glücklicherweise nimmt der Herr Scherhag, Berufsbildner der Schibli-Gruppe, an unserem Event am 10. Juli in Zürich teil und kann sicherlich noch mehr darüber berichten.
Wir können es drehen und wenden wie wir wollen; im Ergebnis gilt immer noch die Aussage eines Ausbildungskollegen: „Können wir die beruflichen Anforderungen ändern? Nein, diese sind gegeben durch das, was der Kunde, der Markt und der Wettbewerb fordern. Können wir die jungen Menschen ändern, die uns zur Verfügung stehen? Realistischer Weise können wir diese nicht ändern. Also müssen wir uns ändern!“. Ein (Ab-)Warten auf andere (Politik, Schule, etc.) bringt nichts, kostet aber wertvolle Zeit.
Im Vergleich mit Deutschland ist die Schweiz jetzt dort, wo Deutschland vor 3-5 Jahren war. Über konkrete Ansatzpunkte habe ich mehrfach an dieser Stelle publiziert und werde entlang des von mir favorisierten Vorgehens am 10. Juli ausgewählte Praxisbeispiele mitbringen. Es gibt m.E. allerdings keine „one size fits all“-Ansätze und keine Blaupausen, die man nur kopieren muss! Eben deshalb ist unser Vorgehen – eingebunden in Foren – mit Arbeit verbunden, die leider viele Bildungsverantwortliche scheuen, weil sie dafür neue Wege gehen müssten; und das wollen viele nicht. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
Beste Grüsse
Volker Mayer
Lieber Herr Mayer,
Ein interessanter Beitrag, welcher den Finger in die Wunde hält. Leider blutet diese aber immer noch. Ich bezweifle, ob in der Berufsbildung ihre oben erwähnten Analysen strategisch angewendet werden.
Bereits entlang der Berufsorientierungscluster existieren bei uns weder öffentlich zugängliche Daten, noch wissen wohl die wenigsten bei uns, von was wir hierbei sprechen. Und wenn sie es noch wissen würden, wage ich hier die Hypothese aufzustellen, dass die zeitlichen Ressourcen für Berufsbildungsverantwortliche schlicht nicht ausreichend sind, um diese Kenngrössen in ihrem Lehrbetrieb auszuwerten und anzuwenden.
So verlassen sich viele immer noch – wie im alten Rom – darauf, dass die Bewerber in Scharen zu ihnen strömen würden. Wenn der Bewerberstrom dann abreisst, wundern sie sich ganz unbefleckt und fragen sich, warum dies in aller Welt plötzlich der Fall ist. Warum? Weil sie zu sehr mit sich selber beschäftigt sind/waren und die Berufsbildung bisher lediglich als idealen, operativen Zustupf betrachtet haben. Dies, anstelle sie im Sinne der strategischen Nachwuchsförderung, mit qualitativem Höchstmass an Ausbildungsqualität voranzutreiben.
„…es hat ja bisher auch immer geklappt…!“, höre ich viele mit betretener Miene sagen – gefolgt von der ernüchternden Frage: „…was machen wir jetzt…?“.
Die Lehrbetriebe zeigen sich gerne in schönen Formulierungen ihrer Value Proposition und versuchen so ihren Bewerber-GAP auszutarieren. Diese Strategie ist m.E. ebenso wenig hilfreich, wie wenn man als Lehrbetrieb die „Gymnasiums-Abbrecher“ als heilende Zielgruppe identifiziert.
Von was sprechen wir in der blutenden Realität? Wir sprechen von abnehmenden Bewerberzahlen. Von Bewerberzahlen, die sich gemäss meinen vorliegenden Analysen in den letzten 2-3 Jahren doppelt verschlechterten und bei marginal steigender gymnasialer Quote quantitativ verringert haben. Vor drei Jahren führte noch jede 16. Bewerbung zu einem Lehrvertrag. Heute ist es nur noch jede 29. Bewerbung. Hier gibt es eine signifikante Verschiebung in
– Bewerberqualität,
– Interesse an der Berufsbildung, und
– Image der Berufsbildung.
Interessant hierbei ist, wie z.B. Medienschaffende das duale Bildungssystem gebetsmühlenartig als das beste Bildungssystem der Welt lobpreisen. Auch die neuste KOF-Studie der ETH-Zürich aus dem Jahr 2018 stuft zwar den sozialen Stellenwert und die Verankerung der Berufsbildung in der Gesellschaft als bedeutend hoch ein. Insbesondere in der Westschweiz, wie auch in der Deutschschweiz soll dies der Fall sein. Im Kanton Zürich zeigen sich z.B. der Bezirk Meilen und die Stadt Zürich als eigentliche AusreisserInnen, d.h. diese beiden Bezirke erachten den gymnasialen Weg als zielführender. Gesamthaft erscheinen ländliche Gebiete zugänglicher zur beruflichen Grundbildung.
Doch mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das, was über die Popularität der Berufsbildung öffentlich geschrieben und gesagt wird, auch wirklich zutrifft. Ich sehe nur, dass viele gescheite und intelligente Leute sich Gedanken machen, wie die Berufsbildung in Zukunft auszusehen hat. Es wird viel diskutiert und viele Berufsbildungsverantwortliche in vergleichbaren Positionen berichten aus ihren Organisationen, wie sehr ihnen die Zukunft der jungen Menschen wichtig sei – und wie gut sie in der Nachwuchsförderung dastehen würden.
ABER: Sie alle bewegen sich im Spannungsfeld der operativen Bereiche, die über Budgets im Sinne von „… sein, oder nicht sein …“ entscheiden. Beim genaueren Hinsehen, bleibt eben leider genau der Umgang mit „den Kerzen“ bei den Lernenden hängen:
„Sie starten mit einer Lehre und arbeiten – und sie arbeiten um Wertschöpfung zu generieren.“
Die Lernenden sind in der Schweiz vielfach da, damit Lehrbetriebe tiefer kalkulieren und „konkurrenzfähige Angebote“ abgeben können.
Hier machen sich weitere Abgründe auf. Ich bin grundsätzlich auch der Auffassung, dass es nicht verboten ist, wenn man mit Lernenden einen gewissen Gewinn erzielen kann. Aber dieser muss m.E. in einem adäquaten Mass reinvestiert werden, damit die Lernenden ihre Fach-Kompetenzen vermittelt erhalten und nach der Ausbildung als valable Nachwuchskräfte dem strategischen HR zur Verfügung stehen können und auf dem Arbeitsmarkt bestehen können.
Was mich besorgt und zu denken gibt ist folgendes: Wie schaffen wir es, unsere Vorstellung der „idealen, strategisch agilen Berufsbildung“ in die Köpfe der Entscheidungsträger zu transportieren? Eine berufliche Berufsbildung, welche mit dem strategischen HR im Austausch über die steuerungsrelevanten Ausbildungsinhalte steht. Und eine berufliche Grundbildung, welche die Chance hat, sich neu mit „KNX“ zu befassen – als nur mit Kerzen. Ich bin da nicht mehr so euphorisch, wie vor ein paar Jahren, weil ich alles andere sehe, als das dringend Notwendige. Das Kerzenlicht ist so präsent wie der Bewerbungsrückgang. Zudem ist es offensichtlich, dass sich die Lehrbetriebe gegenseitig die Ideen klauen, um einander die Azubis abzujagen. Ist das Innovation? Ist das nachhaltig? Ich glaube kaum.
Läuft die berufliche Grundbildung somit Gefahr, die Rolle der Nachwuchsförderung zu verlieren?
Herzlichst
Rolf Siebold
Geschätzter Herr Siebold,
besten Dank für Ihre nüchterne Einschätzung der Berufsbildung Schweiz.
Ich verstehe Ihren Standpunkt und ich teile Ihre Zweifel bzgl. der Anwendung strategischer Analysen in der Berufsbildung. Dadurch wird die Neuausrichtung der Berufsbildung aber nicht minder notwendig.
Nun ist Berufsbildung ja kein Selbstzweck, sondern betrieblich notwendig. Um die Berufsbildung also neu auszurichten, muss man von den geschäftlichen Anforderungen her denken:
– Welche Fähigkeiten sind künftig im Betrieb notwendig?
– Fachkräfte mit welchen Qualifikationen gehen in den nächsten 5-10 Jahren in den Ruhestand?
– Wo entstehen neue Geschäftsfelder? Welche Kompetenzen müssen Mitarbeitende in diesen Geschäftsfeldern mitbringen?
– Wo entstehen durch die Digitalisierung neue geschäftliche Anforderungen? Welche digitalen Kompetenzen sind dafür notwendig? Welche Berufsbilder werden davon tangiert?
Aus dieser Richtung kommend sind die von Ihnen geschilderten Probleme (Value Proposition, abnehmende Bewerberzahlen, etc.) zwar nicht automatisch gelöst, aber jedem ist klar:
Wenn die Berufsbildung nicht neu ausgerichtet wird, dann werden die obigen Leitfragen nicht beantwortet und in operatives Tun umgesetzt, dadurch fehlen über die Zeit notwendige Kompetenzen und Qualifikationen, Leistungen können nicht mehr erbracht werden, somit bleiben Umsätze aus und der Betrieb ist in seiner Existenz gefährdet.
So einfach ist das; zumal die Arbeitsmärkte in weiten Teilen leergefegt sind, d.h. die Rekrutierung bereits ausgebildeter Mitarbeitender immer schwieriger wird.
Häufig bleibt also nur die Berufsbildung als operative Massnahme im HR übrig – neben der Weiterbildung und der Bindung Berufserfahrener.
Wenn nun trotzdem mit Blick auf die Berufsbildung die Budgetfrage gestellt wird, dann haben wohl einige Entscheidungsträger im Thema Wertschöpfungskette noch Nachholbedarf. Ihnen kann geholfen werden!
Ich denke, unser gemeinsamer Event am 10. Juli in Zürich wird sicherlich kurzweilig. Es gilt, jetzt die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen und ggf. auch einmal gegen den Strom zu schwimmen. Dies können übrigens nur gesunde Fische!
Beste Grüsse
Volker Mayer