Es gibt sie noch; Lehrbetriebe, die keine Probleme haben, ausreichend geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu gewinnen und zu binden. Doch schon heute und erst recht in 2-3 Jahren werden wir alle – Unkenrufen zum Trotz – von den heutigen Zuständen nur noch träumen. Kein Wunder also, dass sich die Lehrbetriebe, die Forschungseinrichtungen, die Schulen und viele mehr mit den Jugendlichen beschäftigen, die sie als Azubis oder Dual Studierende gewinnen wollen. In diesem Kontext fallen die Veröffentlichungen von Michael Winterhoff, einem Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten, auf fruchtbaren Boden.

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http://www.youtube.com/watch?v=KBLpHT3muX8

Am Dienstag, den 25. November 2014, werde ich mit ihm auf Einladung der IHK Rhein-Neckar das 4. Ausbilder-Seminar gestalten.

Mein Vortrag wird sich mit dem Thema „Wandel in der Berufsausbildung – von äußeren Umständen und inneren Veränderungen“ auseinandersetzen. Folgende Inhalte sind mir dabei wichtig:

  • Äußere Umstände: Demografie, Akademisierung, Ausbildungsreife sowie Grundmotive und Wertvorstellungen (wissend, es gäbe noch viele mehr).
  • Innere Veränderungen: Von bedarfsorientierter Planung, über Zielgruppensegmentierung, bis hin zur Ökonomisierung.

Äußere Umstände

In meinen Blogbeiträgen „Neues Geschäftsmodell für die Berufsausbildung“ (Juni 2014) und „Reife und andere Irrtümer“ (August 2013) sowie in Beiträgen von ZEIT ONLINE (siehe: „Müssen jetzt alle studieren“ und „Viel mehr Fantasie entwickeln„; beide: November 2014) wurde bereits ausführlich auf äußere Umstände eingegangen. Ich fasse deshalb zusammen:

Demografie – bezogen auf Baden-Württemberg/DE, weil der Vortrag am 25.11. in Mannheim stattfindet:

  • Nach den Berechnungen des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg wird die Zahl der 15-64-Jährigen bis zum Jahr 2030 um elf Prozent sinken. Laut IHK-Fachkräfte-Monitor fehlen aktuell in Baden-Württemberg 200.000 Fachkräfte, rund zwei Drittel davon entfallen auf technisch qualifizierte Berufe.
  • Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt hat sich gedreht: Rund 72.000 Ausbildungsplätze wurden im Jahr 2012 in Baden-Württemberg angeboten. Diesem Angebot standen aber nur 66.000 Bewerber gegenüber.  Im Ausbildungsjahr 2013/14 blieben bereits 34.000 Lehrstellen unbesetzt!

Akademisierung– ist die duale Ausbildung nur noch eine Option für Bildungsverlierer?

  • Die OECD fordert schon lange eine weitere Erhöhung der Studierendenzahlen. Während in Deutschland knapp die Hälfte eines Jahrgangs (2005: erst 36 Prozent) studieren, sind es im OECD-Schnitt gut 60 Prozent (Debatte über Akademisierung, Februar 2014, faz.net).
  • Die Studienabbrecherquote an den Hochschulen in Baden-Württemberg liegt nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Durchschnitt bei knapp 20 Prozent – das sind ca. 10.700 Studierende jährlich. IHKs und HAW (Hochschulen für Angewandte Wissenschaften) in Baden-Württemberg wollen lt. einer Presseinformation vom Januar 2014 dieses „Potenzial“ besser nutzen und damit dem sich zuspitzenden Fachkräftemangel entgegenwirken.
  • Gelten „alte“ Annahmen – höheres Gehalt, niedrigere Arbeitslosenquote – noch? Gerade in den vergangenen Monaten wurden Zahlen bekannt, wonach dies zu hinterfragen ist.

Ausbildungsreife – Mangel an Fachkompetenzen, Sozialkompetenzen sowie auffällige Verhaltensweisen:

  • Trotz des oben skizzierten Überangebots an Ausbildungsplätzen konnte jeder achte Bewerber in Baden-Württemberg seinen Ausbildungswunsch nicht realisieren.
  • Es ist auffällig, dass eine große Anzahl an Betrieben aller Branchen lernschwächere Jugendliche mit Einstiegsqualifizierungen, Nachhilfe im Unternehmen, ausbildungsbegleitenden Hilfen der Arbeitsagenturen (abH) oder speziellen Praktika unterstützt, ohne deren mangelnde Ausbildungsreife oder den zusätzlichen Aufwand überhaupt als Ausbildungshemmnis zu benennen.
  • Darüber hinaus berichten Lehrbetriebe zunehmend häufig über Mängel im Verhalten Jugendlicher (Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit, Disziplin).

Grundsätzlich nehmen alle Lehrbetriebe die demografische Entwicklung und den Akademisierungstrend spürbar wahr. Nach der IHK-Ausbildungs­umfrage 2014 konnten 29 Prozent der befragten Betriebe ihre angebotenen Ausbildungsplätze im letzten Ausbildungsjahr nicht besetzen. Bei Betrieben mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden lag dieser Wert sogar bei 37 Prozent! Was als Problem der „Kleinen“ begann, hat nun auch die größeren Betriebe erreicht.

Befragt nach den Gründen haben 71 Prozent angegeben, dass sie keine geeigneten Bewerbungen erhalten haben, 19 Prozent haben gar keine Bewerbungen erhalten.

Grundmotive und Wertvorstellungen – hier gilt es die Jugendlichen abzuholen (Auszüge aus unserer Schülerstudie 2014):

  • Es gibt nach wie vor klassische Männer- und Frauenberufe – und es wird sie auch weiterhin geben.
  • Traditionelle Werte wie Sicherheit, Familie, Freundschaft sowie mehr abgeklärter Realismus nehmen in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Unsere Untersuchungen belegen eine ansatzweise Trendumkehr bzw. Renaissance zur Familienorientierung mit Kindern.
  • Die Lebenswelten Jugendlicher sowie deren Selbsteinschätzung spielen eine wesentliche Rolle bei der Berufsorientierung. Abhängig von den Berufsgruppen, für die Jugendliche ihre Neigungen entdeckt haben, sind mögliche Informationsquellen unterschiedlich relevant.
  • Auch die Kriterien für die Wahl eines Ausbildungsplatzes unterscheiden sich entlang Berufsgruppen.

Die möglichst genaue Kenntnis dieser Grundmotive und Wertvorstellungen junger Berufseinsteiger ist der wohl wichtigste Einflussfaktor für notwendige, unternehmens-interne Veränderungen.

Innere Veränderungen

Dass Betriebe ihre Anstrengungen verstärken, um junge Erwachsene für eine Ausbildung zu begeistern – Stichworte: Employer Branding Initiativen, Ausbildungsmarketing – ist sicherlich ein Weg, um auf die äußeren Umstände zu reagieren. Ich plädiere jedoch für einen umfassenderen Ansatz, nämlich ein neues Geschäftsmodell in der Berufsbildung. Die Grundgedanken hierzu habe ich bereits in meinen Blogbeiträgen „Nachwuchsplanung – ein Praxisleitfaden“ (November 2014), „Neues Geschäftsmodell für die Berufsbildung“ (Juni 2014) und „Die Talent Sourcing Canvas“ (März 2014) ausführlich dargelegt. Wichtige Hinweise für Lehrbetriebe finden sich auch in unserer diesjährigen Schülerstudie „SINN-volles Recruiting 2.0 – Strategie statt Likes!„, auf die ich bereits weiter oben eingegangen bin.

In unseren diesjährigen Fachtagungen mit Ausbildungsverantwortlichen herrschte denn auch Aufbruchsstimmung. Hier nur einige Zitate:

  • „Wir müssen Berufsausbildung neu denken.“
  • „Wir müssen mutiger werden und Dinge in Frage stellen, die wir jahrelang für gut befunden haben.“
  • „Man kann als Ausbilder nicht Neues vermitteln und nur am Alten festhalten.“
  • „Der schnellste ICE nützt nichts, wenn er auf alten Gleisen fährt.“

Meine Gedanken zu unternehmens-internen Veränderungen möchte ich im Folgenden zusammenfassen:

Transparenz & bedarfsorientierte Planung – der Social-Media-Hype ist vorbei:

  • Mehr Informationen über zukünftige Bedarfe und Chancen; hierauf bin ich in meinem Vortrag an der 15. DGFP Jahrestagung Personalcontrolling bereits eingegangen.
  • Einbindung von (auch mehrwöchigen) Schülerpraktika! 2014 hat vor allem die Bereitschaft, Praktika anzubieten, deutlich zugenommen. Beinahe zwei Drittel aller Betriebe, die rückläufige Bewerberzahlen feststellen, wollen Jugendlichen Berufsorientierung durch Schülerpraktika bieten.
  • Fokussierung auf Schlüsselberufe (hohe Nachfrage, niedriges Angebot, schwierig zu rekrutieren) unter Berücksichtigung von Kennzahlen und Indikatoren sowie zur Verfügung stehender Budgets (entlang Stückkosten!).

Zielgruppensegmentierung & Sinnvermittlung – Strategien sind abhängig vom jeweiligen Segment:

  • Entlang der o.g. unterschiedlichen Relevanz von Informationsquellen, unterschiedlicher Kriterien für die Wahl des Ausbildungsplatzes sowie unterschiedlicher Lebenswelten – jenseits von demografischen und weiteren Unterschieden – ergeben sich homogene „Cluster“, die jeweils Ausgangspunkte für die Geschäftsmodellierung darstellen. Folgende Fragen sind hierbei hilfreich: Durch welche Eigenschaften zeichnen sich geeignete Bewerberinnen in den einzelnen Clustern aus? Von welchen Schulen/-typen kommen diese? Welche (Zusatz-)Qualifikationen bringen sie mit? Welchen Lebenswelten sind diese BewerberInnen zuordenbar? Wie sieht die kulturelle Passung zum Lehrbetrieb aus? Welche Praktika haben die BewerberInnen bereits absolviert? Wie können Neigungen und Berufswünsche in die Ausbildung eingebracht werden?
  • 33 Prozent der Betriebe setzen bereits auf die Erschließung neuer Bewerbergruppen, um die rückläufigen Bewerberzahlen auszugleichen. Dies ist ein deutlicher Anstieg um 19 Prozentpunkte. Neue Bewerbergruppen können dabei sehr vielfältig sein: Studienabbrecher, Ausbildung in Teilzeit (in Verbindung mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen), Jugendliche aus Krisengebieten (z.B. Afghanistan) und/oder Südeuropa.
  • Lehrbetriebe, die in der Rekrutierung von Jugendlichen erfolgreich agieren, lassen persönliche Nähe zu und stellen die Sinnvermittlung vor fachliche Inhalte. Sie geben Jugendlichen die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren, um ihre Talente zu entfalten. Zu der Suche nach Sinn passen ebenfalls die von Schülern in unserer Befragung genannten, folgenden Kriterien: Weiterbildungsmöglichkeiten, attraktive Arbeitsaufgaben und mögliche Karriereperspektiven im Betrieb.

Geschäftsmodellierung & Ökonomisierung – Controlling in der Ausbildung:

  • Die eigenentwickelte Talent Sourcing Canvas dient zur Geschäftsmodellierung in der Berufsausbildung. Entlang der neun Bausteine einer Canvas können folgende Fragen beantwortet werden:  Was will ich mit der Berufsausbildung erreichen? Welche Ressourcen benötige ich, um Berufsausbildung erfolgreich zu betreiben? Welche Regeln im Rahmen des definierten Geschäftsmodells führen zum Ziel?
  • Wichtig: Strategien, die man so gerne in den Mund nimmt, sind individuelle und dynamische Anwendungen der Regeln des Geschäftsmodells auf den Einzelfall!
  • In Verbindung mit transparenten Prozessen in der Berufsausbildung, zugeordneter Mengengerüste, Personalaufwände und Kostenstrukturen sind Prozess- resp. Stückkosten ermittelbar, die als Grundlage für eine zunehmende Ökonomisierung dienen.
  • Ein differenziertes Ausbildungscontrolling entlang Talentflüssen und Auswahlprozessen bindet Frühindikatoren mit ein und führt zu innovativen Optionen, die ohne dieses Vorgehen nicht zutage treten würden (Beispiele: FESTO Bildungsfonds, Duales Studium in China).
  • Ich veranschauliche das Thema Frühindikatoren am Beispiel der Kennzahl „Cost-per-Hire“ (Kosten pro Einstellung): Folgende Fragen resp. Hinweise auf mögliche Indikatoren gehen mit dieser Kennzahl einher: Wie viel Zeit benötigen wir, um einen neuen Mitarbeiter respektive Lernenden einzustellen (Time-to-Fill, Time-to-Accept)? Wie viele Besucher haben wir auf unserer SchlossKarriereseite? Wie viele Bewerbungen erhalten wir?  Über welche Kanäle gehen die Bewerbungen ein? Wie viele Bewerbungen erhalten wir pro Ausschreibung respektive pro Ausbildungsjahrgang in den definierten „Clustern“? Wie viele Mitarbeiter gewinnen wir aus Praktikantenbindungsprogrammen, aus Mitarbeiterempfehlungen oder aus dem Talentpool? Über welche Personalmarketing-Kanäle wurden neue Dual Auszubildende / Studierende auf unseren Lehrbetrieb aufmerksam? Wie erleben und beurteilen unsere (auch abgelehnten) Bewerber und neuen Mitarbeiter unseren Recruiting-Prozess? Wie erleben und beurteilen Bildungsverantwortliche und Fachvorgesetzte den Recruiting-Prozess?

Auszüge meines Vortrages zum Thema „Wandel in der Berufsausbildung – von äußeren Umständen und inneren Veränderungen“, den ich am 25. November 2014 bei der IHK Rhein-Neckar halten werde, stelle ich Ihnen hiermit gerne zur Verfügung.

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Schlussfolgerungen

Aus den obigen Ausführungen ergeben sich m.E. die folgenden Schlüsse:

  • Es scheint mir besonders wichtig, Oberstufenschüler – unter Einbindung der Eltern! – in ihren Schulen gleichberechtigt über duale Berufsausbildungsgänge und über Studiengänge zu informieren (Stichwort: systematische Berufs- und Studienorientierung).
  • Für SchülerInnen ist es nicht grundsätzlich und per se sinnvoll, eine höhere Schule zu besuchen und danach einen Universitätsabschluss anzustreben. Das kann sinnvoll sein für bestimmte Menschentypen, für andere nicht. Ausschlaggebend sind in erster Linie die Grundmotive und Werte, die Fähigkeiten und Neigungen sowie die Berufswünsche und -ziele.
  • Eltern spielen als Bezugspersonen dieser Jugendlichen eine sehr wichtige, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle.
  • Für Lehrbetriebe geht es darum, umfassende Transparenz  – nach außen: Wissen über Arbeitsmarktdaten, Wettbewerber und Zielgruppen; sowie nach innen: Bedarfe, Unternehmenskultur und Kostenstrukturen –  aufzubauen, Trends zu analysieren und frühzeitig Maßnahmen daraus abzuleiten.
  • Die zunehmende Ökonomisierung macht vor der Berufsausbildung nicht halt – im Gegenteil. Gerade mit Blick auf die vor uns stehenden „äußeren Umstände“ gilt es, mit den Ressourcen behutsam umzugehen.
  • Lehrbetrieben empfehle ich eine Kultur des Hinterfragens und des Weglassens – auch und gerade im Thema Ausbildungsmarketing. Nicht jeder S**, die durch das Dorf getrieben wird, muss man hinterher rennen!
  • Darüber hinaus geht der Trend wohl in Richtung Kombimodelle; d.h. der Kombination von Aus- und Weiterbildung. Diese Modelle beinhalten v.a. Auslandsaufenthalte und berufsbegleitende, zertifizierte Studien auf Basis einer bzw. parallel zu einer Berufsausbildung und gehen mit einer Erhöhung der Durchlässigkeit der Bildungssysteme (Öffnung der Hochschulen) einher.

Was ist Ihre Meinung?

  • Welche der skizzierten „äußeren Umstände“ sind für Ihren Betrieb relevant? Welche Maßnahmen haben Sie in diesem Zusammenhang initiiert?
  • Wie stehen Sie zu den skizzierten „inneren Veränderungen“; speziell der Ökonomisierung?
  • Haben Sie ein Ausbildungscontrolling aufgebaut? Nutzen Sie Benchmarks in der Berufsausbildung?

Ich freue mich auf Ihre Kommentare und Anregungen zum Thema „Wie ticken Jugendliche? Wie agieren KMUs?„.